Reise durch die Nacht

28. Januar 2007

Late Night Train Spotting © 2002-2007 by renderdude

••• Die Bekanntschaft mit den Gedichten von Zbigniew Herbert verdanke ich Charlotte. Und sie war es auch, die mir eines Tages in grosser Aufregung von Friederike Mayröcker erzählte. In der schwarzen Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt war 1986 ihre Erzählung „Reise durch die Nacht“ erschienen. Daraus las sie mir vor. Sie las langsam, wie beschwörend.

Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Buch damals gelesen habe. An die in dieser Erzählung ohne Handlung oft wiederkehrenden Versatzstücke erinnerte ich mich wieder, als ich im „Blutreizker“ von der „Propellerschleife im Haar“ las:

… das sind jedoch alles nur Vermutungen … Propellerschleife im Haar … alles hängt irgendwie mit meinem Vater zusammen … das ist ein starker Standpunkt, sage ich … und ist schon wieder vorüber …

Kann es Zufall sein, dass die Propellerschleife im „Blutreizker“ auftaucht?

Ich habe das schwarze Büchlein gleich gefunden und noch einmal gelesen. Es ist merkwürdig, nach längerer Zeit wieder ein Buch zur Hand zu nehmen, das man einmal so geschätzt hat, dass es mit Anstreichungen und Unterstreichungen angefüllt ist. – Ich mag es noch immer, wenn es auch mäandert und zwischen vielen Höhen auch manch arge Tiefen hat, ja sogar wirkliche Peinlichkeiten. Doch die fallen dann doch nicht ins Gewicht, wenn man das Ganze betrachtet. Es war schwierig, eine Passage auszuwählen. Zu viele Stücke hätte ich gern zitiert.

 

Friederike Mayröcker: Reise durch die Nachtwenn ein Blatt vom Baum fällt, zittert die Welt, ich habe Angst, ich habe auch Angst, ich habe immer schon Angst gehabt, ich falte mich allzu leicht vor den Menschen zusammen, ich komme mir unterlegen vor, eine Angst löst die andere ab, sage ich, mein Selbstwertgefühl ist beinahe erloschen, eine fortschreitende Zersetzung wird offenbar, tatsächlich bin ich kaum mehr imstande, Freunden, ja vertrautesten Menschen ohne Scheu und Befangenheit, ohne Gefühle der Unterlegenheit, Unsicherheit und Furcht zu begegnen, alles ist schwierig geworden, alles ist undurchschaubar geworden, alles hat an Wirkung eingebüszt, ich bin kaum mehr Herr meiner selbst, ein dauerndes Danebenstehen, ein dauerndes teilnahmsloses neben sich selbst Stehen, sich selbst Zusehen, sich selbst Verdammen haben mir das Leben zur Qual gemacht, eine den ganzen Himmel überziehende plötzliche Dunkelheit, ich bin auch nicht sicher im Glauben.

Wie leicht wie unversehens, verkehrt sich Liebe in ihr Gegenteil wie man zu sagen pflegt, ich zog mich wochen-, ja monatelang zurück und war selbst für meine engsten Freunde unerreichbar geworden, meldete mich nicht mehr am Telefon, hörte nicht auf das Schellen der Türglocke, unterliesz es, den Hausbriefkasten zu leeren, alles zu seiner Zeit, rufe ich, alles wurde buchstäblich genommen, ich meine alles wurde literarisiert, aber es stellte sich nicht immer als Rettungssystem heraus .. zählte ich zunächst die Zeit meines Leidens nach Stunden und Tagen, waren es bald Wochen, ja Monate die verstreichen muszten ehe ich wieder auftauchen wollte und konnte, hatte ich zunächst nur mit wenigen Tagen gerechnet, waren es inzwischen mehrere Wochen, ja Monate geworden, dasz ich das Haus nicht verlassen konnte, schlieszlich auch nicht mehr wollte, ich hatte es gleichsam verlernt, den Kontakt zur Auszenwelt wiederherzustellen, ja mich der Auszenwelt zu stellen, ich fürchtete mich geradezu davor, die Wohnung zu verlassen, auf die Strasze zu treten, die Fahrbahn zu queren, einen Laden zu betreten, meine Wünsche zu äuszern. Ich war wie gelähmt, ich konnte nicht mehr richtig artikulieren, als wäre ich der Sprache verlustig geworden, die Laute überschlugen sich in erschreckender Weise, man hatte Mühe mich zu verstehen, starrte mich an weil man mich nicht verstehen konnte, oder wollte, behandelte mich wie einen Geisteskranken, oder liesz mich einfach stehen, so als ob man mir Zeit gönnen wollte mich zu besinnen, meine Gedanken zu ordnen : ich fühlte Scham und Empörung, war den Tränen nahe, rannte davon .. hatte es zunächst so geschienen, als ob es nur eine vorübergehende Krankheit sei, waren inzwischen Wochen, ja Monate verstrichen und das Leiden war immer noch nicht volkommen abgeklungen: waren es zunächst nur Tage gewesen, dasz er, Lerch, sich nicht meldete, waren es nun Wochen, ja Monate geworden, so dasz ich annehmen muszte, sein Rückzug sei endgültig geworden, ich fragte den Arzt ob meine Krankheit blosz eingebildeter Natur sei, denken Sie, fragte ich meinen Arzt, dasz ich nur an einer eingebildeten Krankheit leide, hat es womöglich mit dem abnehmenden Mond zu tun, der abnehmende Mond zehrt und tut weh nämlich weil wir uns vom Licht verlassen glauben, an meinen Briefen schreibe ich jetzt tage-, ja wochenlang weil mich so viele dünne Stimmen rufen, wegrufen nämlich die Schleier / Schreiber vor meinem Fenster, auch Regenschreiber, Skribenten .. durch Übung und Nachdenken, Landnahme, unserer Phantasie besonders am Morgen, wenn ein Zustand des halben Träumens uns noch umfangen hält, aber für dich gibt es ohnehin nur die Einbahn, ruft Julian und setzt sich in seinem Bett auf, nur die Einbahn sonst nichts, und jede Ablenkung schadet nur, nur die Einbahn deiner Gedanken ist nützlich für dich, Ohren im Fensterladen ..

Friederike Mayröcker, aus: „Reise durch die Nacht“
© Friederike Mayröcker & Suhrkamp Verlag 1984

3 Reaktionen zu “Reise durch die Nacht”

  1. Abendlicht « Turmsegler

    […] und Sprachsplitter, an die ich mich noch lange erinnern konnte und noch immer erinnere. So habe ich Friederike Mayröcker gelesen, deren Prosa zu einer solchen Art des Lesens geradezu einlädt. So las ich damals aber auch […]

  2. Wo du auch hingehst « Turmsegler

    […] so ging es mir mit den Gedichten von Friederike Mayröcker. Ich kannte zunächst nur ihre Prosa. Vor einiger Zeit habe ich mir dann den dicken Wälzer mit ihrem (bisherigen) lyrischen Gesamtwerk […]

  3. Überm Rauschen « Turmsegler

    […] eben leicht machen. Ich dachte an Woolfs »Wellen«, an Hermlins »Abendlicht« und Mayröckers »Reise durch die Nacht«. Aber gelegentlich kann so etwas auch ganz anders ausgehen. Scheuers poetische Variationen […]

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