Wachteln im Käfig

12. Januar 2007

Cook in brain © by ~adnrey

••• Neue Kontakte wie diese zu knüpfen, fiel mir nie leicht. Hin und wieder habe ich es dennoch versucht. So war es auch bei Julia Franck. Ihren Debüt-Roman „Der neue Koch“ habe ich 1997 im Handlager des Ammann-Verlags gefunden. Er war in der Meridiane-Reihe erschienen, die ich sehr liebte und zu der ich selbst eines Tages unbedingt ein Manuskript beitragen wollte. Dazu ist es bis heute nicht gekommen, aber zu einem Treffen mit Julia in Berlin. Auf dem Weg dorthin las ich noch einmal ihr Buch. Hier ein Auszug: Am zitierten Tag gab es Wachteln im Käfig.

 

Der neue Koch (Cover)Die Ehrfurcht läßt nach, man spachtelt, so gut es geht, bis sich das Gestoße und Gesuche um die Käfige und ihren Inhalt dem Ende nähert. Der aufgedunsene Mann meines Alters, der neben Niclas sitzt, beißt noch auf einem Wachtelknochen, der zwischen seinen Zähnen knackt und springt. Er sagt, er fände das Essen auf diese Art zu umständlich, eigentlich mag er die Pizza frei Haus, am besten gleich zwei, doch lieber, auch Gesellschaft beim Essen ist ihm ungewohnt und unlieb, sagt er, grinst mich freundlich über die umgekippten Käfige hinweg an, er scheint zu merken, daß ich für nichts etwas kann, er will mich wohl trösten dabei. Damals sagt er, ob ich mich erinnere, hätte er auch schon die Brotberge und Süßigkeiten der anderen Kinder sehr verehrt. Er selbst hätte immer zu wenig mitbekommen. Ich hätte ihm häufig etwas abgegeben, manchmal mein ganzes Essen. Dabei seien meine Brote nicht die leckersten gewesen, meine Mutter hätte eine unangemessene Art gehabt, Schulbrote zu bereiten, sie hätte die Brote nicht zugeklappt, sondern einfach belegt und obendrein mit allerhand Zeug dekoriert, Petersilie, Gurken und solchen Dingen. Die hätte er unter der Klarsichtfolie hervorheben müssen, meine Brote hätte man immer nur mit Vorsicht, ja beinahe Zärtlichkeit auspacken können. Sobald er mir den Rücken zugekehrt hatte, hätte er das überflüssige Zeug auf meinen Broten in der Regel weggeworfen, die Brote zusammengeklappt und dann in wenigen Bissen verschlungen. Er grinst weiter, aus dem aufgedunsenen Gesicht. Ich erinnere mich nicht, er scheint mir bekannt, aber ich erinnere mich nicht. Ich will mich nicht an einen Bestattersohn erinnern, der mir nie nette Worte gesagt, nie ein Danke oder ein Bitte von sich gegeben hatte, der einmal auf dem Heimweg über mich hergefallen war, sich mir in den Weg gestellt hatte und sagte, ich solle mich ausziehen, schnell, weil er mich nicht anfassen wollte. Ich solle mich ausziehen. Ich wollte mich nicht ausziehen, das war vorne am Park, es kam niemand vorbei, ich hätte es nur für ihn tun sollen. Nein, hatte ich gesagt, und er hatte mir ins Gesicht gespuckt, einfach so. Ich habe mit dem Finger hinter ihn gezeigt und nutzte den Moment, da er sich umdrehte, um wegzulaufen. Der Vorsprung hatte gereicht, um den Jungen, der noch dicklicher und träger als ich war, abzuhängen, den Bestattersohn.

Der Herr, es ist Herr Stöber, so redet ihn seine weibliche Begleitung an, ich erinnere mich, heute mittag mit ihm telefoniert zu haben, pult mit einem Zahnstocher nach den abgesplitterten Wachtelknochen zwischen seinen Zähnen. Er lächelt mich wieder freundlich an. Er greift auch mit der Hand nach der seiner Begleitung und erzählt ihr leise etwas.

Der Bestattersohn hielt mich noch ein zweites Mal auf dem Weg nach Hause auf. Schon als ich ihn sah, versuchte ich, wegzurennen. Da er aber auf dem Fahrrad war, hatte er mich mühelos einholen können. Wieder stellte er sich in meinen Weg, diesmal sagte er mir, ich sei eine Fotze, eine Fotze, Fotze, Fotze. Ich hatte dieses Wort zuvor erst selten gehört, aber eine genaue Vorstellung davon, was es bedeuten sollte. Es sollte das Abscheulichste bedeuten, das ich mir vorstellen konnte. Ich merkte, daß ich in der Lage war, mir sehr abscheuliche Dinge vorzustellen. Mir wurde sehr heiß und ich wurde rot, aus Scham und Wut, erst über ihn, dann über mich. Der Junge blieb, dicklich, träge und mit einem Grinsen vor mir stehen. stieß mir sein Fahrrad gegen mein Schienenbein, und weil ich vergaß zu schreien, auch gleich noch seinen Fußballschuh, für den er sonst keine Verwendung fand. Der hatte Stollen an den Sohlen und tat weh. Sein Fahrrad hielt er dabei fest. Es fiel mir ein, daß ich schreien müßte, zumindest vielleicht um Hilfe. Der Junge sagte, ich solle mich ausziehen, ich sei eine Fotze, eine Nutte, wie meine Mutter. Ich wollte schreien, aber so sehr ich mich bemühte, kein Laut wollte meine Kehle verlassen. Er lachte, was ich mein Maul so aufrisse. Ich könnte ihm übrigens auch jeden Tag zwei Brote mitbringen, wenn ich jetzt nach Hause, zu meiner Mutter wollte, zwei Brote mit Wurst und Käse, Teewurst und Scheiblettenkäse, beides zusammen auf beiden Broten, Gurken und Paprika und so was würde er nicht mögen, die dürften nicht drauf sein, Klappbrote mit Wurst und Käse, das sei alles. Toll, Fotze, dann ist jetzt alles klar, sagte er, setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr davon. Ein älterer Mann mit Stock ging an mir vorbei. Er war sicher schwerhörig und hatte, so hoffte ich, nicht gehört, was der Junge zu mir gesagt hatte, wie er mich genannt hatte.

Der Koch und Berta tragen die Käfige ab. Sie ernten Lob. Herr Hirschmann findet den Koch sehr gut, nicht nur die Ideen, wie er seine Speisen verpackt, sondern auch den Geschmack selbst. Hirschmann sitzt am anderen Ende des großen Tisches, neben Anton Jonas, ich würde mich gerne in seine graue Wolke setzen. Was er sagt, kann ich mir nur denken, weil es zu laut ist und er zu weit weg sitzt. Elisabeth beugt sich vor und muß etwas lauter sprechen, um Herrn Stöbers Gehör zu erlangen.

Sie möchte ihm sagen, sagt sie, daß sie ganz anderer Meinung als er sei, sie liebe die Umstände, das Ritual ums Essen, gerade in Gesellschaft esse sie gern.

Julia Franck, aus: „Der neue Koch“
© 1997 Ammann Verlag & Co., Zürich

••• Und das Treffen mit Julia in Berlin? – Ach, davon erzähle ich morgen.

3 Reaktionen zu “Wachteln im Käfig”

  1. NREY

    Cool! :)
    Good luck!

  2. Benjamin Stein

    And thank you for the permission to use your artwork.

  3. Überm Rauschen « Turmsegler

    […] Sujet selbst erinnerte mich an Julia Francks Debüt »Der neue Koch«. Auch dort gibt es ein »Gasthaus«, das Hotel, Sehnsucht nach Geliebtwerden, Einsamkeit und […]

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