für Elsa Hupe
Ich sah ihn nicht kommen
Auf einer Reise war mein Körper
mit Kleidern umwickelt so dass
dieser winzige Strahl
keinen Eingang fand über die Haut
Ich fuhr immer gegen die
Sonne und sah alles Erkennbare
nur als Kontur
Keine Klinken und Schlösser
waren an den Türen zu finden
Nach Hause
polterte der Zug gegen die Erde
nach Hause
Mein vom Rauch bitterer Mund
schluckte am Rattern der Räder
Im Magen lag Mutters Name
ein unauflösbarer Stein
Und das Vatertier kreiste um meinen Kopf
mit toten besoffenen Augen
Den Weg bis zu ihrem Haus
bin ich geflogen
Ich wollte meine Kinderfüße
nicht sehen
wie sie über den Asphalt trippeln
ohne Richtung und Ziel
Ich wollte die Schultür nicht hören
Wie sie ins Schloß fiel
Ich wollte das Stadion nicht sehen
in dem ich Runde um Runde
um mein Leben lief
Ich wollte die Fremden nicht grüßen
mit ihren alternden Kindergesichtern
deren Namen ich aus dem Klassenbuch
noch heute auswendig weiß
Ich hatte Blumen in der einen Hand
in der anderen eine Tüte voll Lügen
eine Haarfarbe wie aus einer
anderen Welt
Als ich neben der Mutter
durchs Küchenfenster flog
hat sie nicht mal gelacht
Sie wischte mich fort
wie man einen unverdienten Schweißtropfen
von der Stirn wischt
Zwischen die Töne der oberen
Oktaven die aus dem Radio spritzen
warf ich meine Grüße in baumwollenen
Hemden damit sie die Pappwände
nicht zerbrachen
Ich striegelte meinen Namen bis er
so glänzte wie eine wirkliche Sonne
Der Mund der Mutter formte ein
Riesiges Oh und
durch die Mundhöhle sah ich
den Hunger
den die geborenen Kinder dort hinterlassen
Den nichts befriedigt
kein noch so sorgsam gebratenes Huhn
keine willig gestandene Liebe
Und noch immer sah ich ihn
nicht kommen
Als ich den Wein
in meinen Mund schöpfte
um das leergelaufene
Meer zu erneuern
Um die Farben der alten
Plastbären aufzuhellen
die in der Badewanne ertranken
Um dem Mond eine klare Wendung zu geben
Allerseelen war
Auf den Friedhöfen zitternde
Blumen Schleifen und
Lilien
Gott stürzte und fiel
mit dem Kopf auf den schlammigen Weg
Und das Licht schnitt
die Fensterscheibe zum Kreuz
Die Telefone in der kleinen
verworfenen Stadt waren von der restlichen Welt
wie abgeschnitten
So riss ich am fleischigen Arm
meiner Mutter als könne der
ihr so zugeteilte Schmerz
den meinen halbieren
Doch sie hielt mir nur
ihren Hunger entgegen
Ein tiefes gähnendes Loch
Da wollte ich in die Höhle zurück
Ich sah ihn
nicht kommen als er kam
wie ein Gast den du batest
an deinem Tisch Platz zu nehmen
die endlosen Biere zu trinken
Zigaretten zu rauchen bis zur
Unkenntlichkeit der Gesichter
Vielleicht sah er aus
wie einer von vielen
Vielleicht hat er dir artig
die Hand geküsst
Vielleicht hat er
vielleicht gesagt mit übereinander
geschlagenen Lippen
Sein Mantel wehte über
den lichtblauen Himmel
als mir die Mutter die Tür wies
Er trug dich in der Nähe
des Orion vorbei
mit nackten wie gläsernen
Armen
Weißt du
warum wir so gehen
Riefst du nach mir
Mein Mantel schlug
ein Loch in die Luft
Die Füße wuchsen
dem Erdkern entgegen
Undine Materni, aus: „Die Tage kommen über den Fluss“
Literaturstiftung Tikkun, Warschau
© Undine Materni 2006
••• Kennengelernt habe ich Undine im Sommer 1985 in Schwerin. Wir trafen uns in der Fachhochschule für Landwirtschaft. Während der Sommerferien der Hochschule fand dort das Poetenseminar statt, eine Werkstattwoche für „junge Schreibende“ aus der ganzen DDR. Wikipedia bringt den Charakter der Veranstaltung sehr gut auf den Punkt:
Zu den Schweriner Poetenseminaren wurden junge Leute eingeladen, die begonnen hatten, sich literarisch (in allen Gattungen einschließlich des Lieder-Machens) zu betätigen. Es wurden so genannte Seminargruppen gebildet, die von gestandenen Dichtern und/oder Literaturwissenschaftlern geleitet wurden.
Es ist umstritten, ob die Poetenseminare dem Staat dazu dienten, sich staatstreue Dichter heranzuziehen (und diese auch unter Kontrolle zu halten) oder wirklich die Literatur zu fördern. Es ist davon auszugehen, dass sich in der Institution Poetenseminar die Ambivalenz des Staates DDR zu seinen Künstlern widerspiegelte.
Unzweifelhaft aber bildeten sich – unabhängig vom Wollen des Staates oder von den Absichten des Zentralrats der FDJ – informelle Strukturen junger Schreibender, die auch über die Woche in Schwerin hinaus Bestand hatten. Für viele bedeutete zudem die Veröffentlichung in der Literaturzeitschrift Temperamente (erschien seit 1976 zweimal, später viermal im Jahr) oder in den Sonderheften der Reihe „Poesiealbum“ zum Poetenseminar die erste offizielle Möglichkeit zur Publikation in der DDR.
Es war in jedem Fall immer eine sehr anregende Woche: Dichtung, Gespräche, Schnaps und durchgemachte Nächte. Man lernte sich kennen. Und man blieb in Kontakt. So kannten sich die jungen Autoren untereinander. Man schrieb sich Briefe, man telefonierte, besuchte sich. Es gab einen regen Austausch. Man konnte sogar mitunter den Eindruck gewinnen, das Leben bestünde nur aus Literatur.
Heute sind die Kommunikationswege kürzer geworden. Aber die Kommnunikation hat nicht zugenommen. Wer weiss noch vom anderen? Wer sendet sich noch gegenseitig Texte zu, um Meinung einzuholen? Wir sind versprengt und vereinzelt, und das kann nicht nur daran liegen, dass unser Land heute grösser ist. – Oder bin am Ende nur ich es, der den Kontakt verloren hat?
Am 12. Januar 2007 um 00:10 Uhr
[…] ••• Neue Kontakte wie diese zu knüpfen, fiel mir nie leicht. Hin und wieder habe ich es dennoch versucht. So war es auch bei Julia Franck. Ihren Debüt-Roman “Der neue Koch” habe ich 1997 im Handlager des Ammann-Verlags gefunden. Er war in der Meridiane-Reihe erschienen, die ich sehr liebte und zu der ich selbst eines Tages unbedingt ein Manuskript beitragen wollte. Dazu ist es bis heute nicht gekommen, aber zu einem Treffen mit Julia in Berlin. Auf dem Weg dorthin las ich noch einmal ihr Buch. Hier ein Auszug: Am zitierten Tag gab es Wachteln im Käfig. […]
Am 4. Februar 2008 um 16:51 Uhr
[…] war meine Freude, als ich in einem der seit 1971 jährlich herausgegebenen Sonderhefte zum Schweriner Poetenseminar vertreten war. Über die damals veröffentlichten Gedichte breite ich bereitwilliig den […]
Am 15. Februar 2014 um 19:06 Uhr
Zu zwei Menschen habe ich z.B. noch regelmäßig Kontakt; und da einer von beiden auch noch schreibt, sprechen wir tatsächlich immer mal über Texte. Aber es ist natürlich etwas anderes, wenn man sich – wie wir – dem literarischen Betrieb entzieht und also schreibt, ohne zu veröffentlichen. Was auffällt – und in unserem Falle betrifft das die Lyrik: wie sehr wir geprägt sind durch die „Schweriner Standards“.
Aber natürlich gibt es nur wenig Grund zur Nostalgie, weil eben jetzt auch deutlich und beweisbar ist, wie die Stasi dort agierte – als Made im fetten Speck.
Mit besonderer Freude verfolge ich übrigens den Werdegang von Lutz Seiler, ohne mit ihm persönlich bekannt zu sein. Aus meiner unmaßgeblichen Sicht gibt es eine klare Linie Arendt – Huchel – Seiler. Was für ein Glück!
Am 24. Juli 2017 um 20:43 Uhr
Ich glaube, Benjamin, dass wir ebenfalls im Sommer 85 in Schwerin zusammensaßen – mit Undine war ich, glaube ich jedenfalls – drei Sommer lang zusammen, im letzten Jahr bei Brigitte Struzyk.
Und tatsächlich: mit Lutz Seiler haben wir fast jede Nacht im Keller diskutiert, getrunken und zu Grönemeyer getanzt :-)
Ich bin glücklich, dass ich das erleben durfte, war später am Lite-Institut und hab seitdem kaum noch literarisch gearbeitet, bin dem Schreiben aber treu geblieben.
Grüße aus der Vergangenheit :-)