Das Bildnis des Dorian Gray

9. Januar 2007

Szenenfoto, Picture of Dorian Gray (1945)Ruhig trat er ein, schloß die Tür hinter sich ab, wie er es immer tat, und riß den Purpurvorhang von dem Bild. Ein Schrei des Schmerzes und der Empörung entrang sich ihm. Die einzige Veränderung, die er zu entdecken vermochte, war ein Ausdruck der List in den Augen und ein scheinheiliger Zug um den Mund. Das Bild war noch immer widerwärtig – widerwärtiger denn je, falls das überhaupt möglich war. Der scharlachrote Fleck auf der Hand glänzte feucht und sah aus wie frisch vergossenes Blut. […]

Er sah sich um. Dort lag das Messer, das Basil Hallward zum Verhängnis geworden war. Er hatte es oftmals gereinigt, kein Fleck war mehr darauf sichtbar. Es glänzte und gleißte. Wie es den Maler getötet hatte, so sollte es auch des Malers Werk töten und alles, was damit zusammenhing. Es sollte die Vergangenheit aus der Welt schaffen – wenn sie tot war, würde er frei sein, erlöst von dem schrecklichen Anblick seiner Gestalt gewordenen Seele. Er griff das Messer und stieß es in das Bild. […]

Oscar Wilde, aus: „Das Bildnis des Dorian Gray“

••• „Das Bildnis des Dorian Gray“ war mein, wenn auch nicht erstes, so doch wohl prägendstes Zusammentreffen mit einem Realismusbegriff, der deutlich von dem abwich, was uns der DDR-Literaturunterricht nahe zu bringen imstande war. Nicht die Sprache dieses Romans fing mich ein. Auch die Idee des Bildnisses, das anstelle des dargestellten Dorian Gray altert und alle Spuren seines verderbten Lebens annimmt, ist gar nicht so ungeheuer. Was mich hier fesselte, war viel mehr die Selbstverständlichkeit, mit der Wilde das über unsere Vorstellungswelt Hinausgehende schildert.

Jahre später habe ich im „Alphabet“ den kauzigen Erzähler Jacoby sagen lassen: „Was ich erzähle, geschieht, nicht umgekehrt.“ Und damit halte ich es noch immer. Das macht schon einen Unterschied zwischen Niederschriften von Alphabetisierten und Dichtung. Nur Chronist des allgemein Wahrgenommenen sein? Ich will in der Literatur eine Wirklichkeit, die darüber hinausgeht oder sie doch zumindest von einer Seite zeigt, die ohne die Dichtung nicht ohne weiteres zugänglich wäre.

Eine Reaktion zu “Das Bildnis des Dorian Gray”

  1. Jens-Christian Fischer

    Danke dass du die Kommentarfunktion geöffnet hast. Ich mache mit dir jede Wette, dass jetzt auch jemand einen Kommentar abgeben wird

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