Das Riesenrad dreht sich nicht, es ist Nacht.
Der Wind bewegt die Gondeln, in der obersten
Auf einer Holzbank die Tänzerin, die Schuhe
Zertanzt. Sie ist achtzehn mit allen Diplomen
Seit sie den Roten liebt den mit der weissen Haut
Er über die Welt spricht
Tanzt sie wie eine Feder.
Der Rote wiegelt die Leute auf
Da steht er am Fenster zählt Flugblätter ab
Setzt sich aufs Fahrrad rollt über das Pflaster
Das war das Attentat.
Der Rote hat eine Kugel im Kopf und redet
Irre. Das Riesenrad dreht sich nicht
Salome schaukelt
Kommt nicht aus der Gondel, nicht diese Nacht
Salome hat sich
Eingeschlossen. Später
Muß sie gehn und fordert den Kopf.
Sie tanzt wie eine Feder
Leicht gebogen, den Kopf zurück, auf den Zehn.
Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005
••• Das Wort Schleier ist gefallen. Da kommt mir Salome in den Sinn…
Von Salome habe ich zum ersten Mal gehört im Haus des Lyriker-Ehepaares Ulrich und Charlotte Grasnick in Mahlsdorf, damals Ost-Berlin. Ulrich Grasnick führte Anfang der 1980er Jahre mehrere literarische Zirkel für Schreibende der verschiedensten Altersgruppen – von 10 bis 80. Einer dieser Zirkel fand wöchentlich bei ihm zu Hause statt. Seine Frau Charlotte war meistens auch anwesend; und es verging keine Zusammenkunft im Grasnick-Haus ohne anregendste Gespräche und zum Teil heftige kritische Debatten um Texte.
Doch es ging in diesen Zirkeln nicht nur um die Texte der Besucher, sondern auch und vor allem um Bildung. Häufig, wenn die Rede auf ein interessantes Thema gekommen war, verschwanden Ulli oder Charlotte im uns unzugänglichen Teil des Hauses und kehrten mit Büchern, Bildern oder Noten zurück. Dann vertieften wir uns in die Materialien. So war es auch hier.
Der Name Salomea war gefallen, so kamen wir auf Salome. Flugs kam das Neue Testament (Mt 14,1-12, Mk 6,14-29) auf den Tisch. Doch gleich dazu wurde noch ein anderes Buch gelegt: Oscar Wildes Bearbeitung des Sujets. Im Gespräch hat uns seine Deutung weit mehr beschäftigt als die Varianten von Matthäus und Markus. Wir waren überzeugt: So, und nur so muss es tatsächlich gewesen sein.
Die Geschichte ist poetischer Sprengstoff. Kein Wunder, dass es so viele und vielfältige Verarbeitungen und Bezugnahmen darauf in der Dichtung gibt.
Am 3. Dezember 2007 um 23:45 Uhr
[…] bergab? Ich muss da einfach immer an die Literaturzirkel denken, die ich seit meinem 12. Lebensjahr intensiv besucht habe. Das taugt gut als Erinnerung, […]