Die Mangel

27. November 2006

Die inquisitoren sind unter uns. Sie leben in souterrains großer mietshäuser und ihre gegenwart verrät nur die aufschrift Hier Mangel.

Tische mit prallen bronzenen muskeln, mächtige walzen, die langsam aber genau zermalmen, das triebrad, das kein erbarmen kennt – warten auf uns.

Laken, die aus der mangel fallen, sind wie leere körper von hexen und ketzern.

Zbigniew Herbert, aus: „Inschrift“ (1967)
© 1979 Suhrkamp Verlag

••• Mangel war das bestimmende Gefühl meiner Kindheit und Jugend „im kleineren Deutschland“. Und ich meine das nicht materiell. Es herrschten ja keine koreanischen Verhältnisse. Es mag nicht viel gegeben haben, doch genug. Man war satt, man wohnte, fuhr sogar Auto, also Trabant. Aber emotional und intellektuell konnte ich unmöglich satt werden. Die Familie im Kleinen nahm sich da mit dem Land im Grossen nicht viel. Vielleicht lag es auch daran, dass mein Hunger immer enorm war. Das mag sein.

In den siebziger Jahren gab es direkt in unserer Strasse tatsächlich ein Waschhaus mit Feuchtmangel. Ich bin als Kind gern dorthin gegangen und habe durch die Fenster interessiert den Waschfrauen bei ihrer Knochenarbeit an den – für mein Empfinden – gigantischen Maschinen zugeschaut. Niemand hätte freilich gewagt, am Waschhaus ein Schild „Hier Mangel“ zu befestigen. Denn wirklich jeder hätte die makabre Doppeldeutigkeit dieses Hinweises verstanden. Und jene Art von Humor war naheliegenderweise nicht geschätzt.

Laken, die aus der mangel fallen, sind wie leere körper von hexen und ketzern.

Ab und an kommt doch einer durch – nahezu unversehrt, als Hexe, als Ketzer, doch nicht ganz entleert. Die Säfte reichen noch, sich zu regenerieren. Und die hungrigen Hexen und Ketzer sind die Bewahrer des Mangels von morgen oder schaffen ihn ab.

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