fragwürdige rückkehr (altes kesselhaus)

Montag, den 7. September 2009

Altes Kesselhaus (Ravensburg)
Altes Kesselhaus (Ravensburg

als wär seither noch keine zeit vergangen
faulen im salpeterweiß die selben wände
und in den winkeln wie seit ewigkeiten hangen
die vagen spinnen noch an ihrer fäden ende

die stühle sind mit staub bedeckt und zeigen
wie nah sie dem zerbrechen sind im golde
der sonnenflecken die durch blind zersprungne scheiben
hereingefallen sind im roten abendneigen

es ist als ob ich wiederkommen sollte
und etwas auch als wollt es mich vertreiben
es ist als ob noch keine zeit vergangen wäre

säumnis –
säumnis –als zögerte noch immer in den wänden
weil ich nicht wegbleib und nicht wiederkehre
ein feuriger wink von geisterhaften händen.

Wolfgang Hilbig, aus: „die versprengung“
© S. Fischer Verlag (2002)

••• Durch eine höchst unwillkommene Magengeschichte ins Bett geworfen, habe ich gestern per Laptop DVD geschaut: »Der Rote Kakadu«. Aus irgendeinem Grunde hatte ich eine seichte Komödie à la »Sonnenallee« vermutet. Das war es nun gar nicht.


Den ganzen Beitrag lesen »

geflüster

Freitag, den 4. September 2009

Efeu
Efeu — © SilentSweetDeath@deviantart.com (2007-2009)

der rote duft der nacht —
die rosen verglühen im dunklen
efeu an trunknen bäumen
im schlafenden gras
such ich mein herz
wo ichs gelassen find ich
nichts feuchtes im dunkel.

ach
ich schmeck mir
so steinern heut

aber irgendwo flüstern
mit meinem herzen
frauen die ich nicht geküßt hab
von der süße der rosen und
wie dunkel der efeu ist.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Gestern war mir nach Hilbig. Ich habe endlich den dicken Suhrkamp-Band mit seinen Gesammelten Gedichten aus dem Regal genommen und mich, mit Zettellesezeichen bewaffnet, durch die Gedichte geschlängelt, angefangen bei den frühen aus »abwesenheit« bis hin zu den letzten und den nachgelassenen, die ich noch nicht kannte.

Wie schnell so einer kalt wird (also kanonisiert), wenn er stirbt, dachte ich mir angesichts dieses ersten Bandes seiner »Werkausgabe«. Der zweite Band mit den Erzählungen und Kurzprosa ist unterdessen übrigens auch erschienen. Muss ich noch kaufen.

an einen ungenannten

Sonntag, den 3. Juni 2007

ich höre daß du in diesem jahr wieder
zwischen diesen hügeln unter diesem eisernen licht
dahingingst
dahingingstwie rimbaud mit einer frau in diesem sommer
der den unsern schon so fern ist daß du nicht die namen
verstehen könntest die ich den hügeln gebe wenn
ich versuche mich zu erinnern

über das gras ist der stein gekommen
zu scharfe regen über die bäume
und ein roter rauch in dem das licht sich ändert
wie um sie umzudeuten die namen
an denen man sich in einem exil besäuft

name die der immer gleiche finger
auf einem papier verreibt das sind die dokumente
dieser zeit
dieser zeit– hoffen wir es bliebe in der atemluft
ein geruch nach verbranntem –

© Wolfgang Hilbig (31. 08. 1941 – 02. 06. 2007)

••• Wolfgang Hilbig ist tot. Er starb gestern in Berlin. Zu früh. So ist das immer. Es ist nicht leicht zu erklären: Für mich ist mit ihm ein Stück meiner ohnehin verlorenen Heimat gestorben, des kleinen Landes, aus dem ich komme, nach dem ich mich keine Sekunde zurücksehne, das aber doch Heimat war. Wie Hilbigs Gedichte.

das ende der jugend

Dienstag, den 1. Mai 2007

Rauhreif © 2004 by Jost Jahn

es kamen schwarze sommer bald und selten
rote sonnen – wolken waren gelbliches gewüchs
und lang vergeblich glaubte ich noch ich ertrügs
dächt ich mir heitre sommer über meine welten

und letztlich schwände dies mit den oktobern –
doch eines morgens war ein rauhreif in das laub gefressen
und ich erschrak vergaß mich – im vergessen
begann die kalte angst mich zu erobern

seitdem vergesse ich dem winter zu entkommen
versäum die pflicht die jeder tag mir auferlegt:
die sonnen die im sommer rot verglommen

zu bannen in mein wort für spätre zeiten –
schon ist die erde ganz von farben leergefegt
und schwärenhafte träume streifen in den weiten.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Auch vom grossen Dichter aus Sachsen, von dem hier und dort schon die Rede war, ein Sonett…

h. selbst-portrait von hinten

Freitag, den 22. Dezember 2006

die hand im haar so hockt er
ruhlos am tisch
und ahnt nicht daß die herbstnacht
die luft an seinem nacken dunkel färbt
er sitzt auf dem sprung er sagt ich bin
solitair
solitairund müde bin ich mir selbst
entflohn (so hockt er am tisch der fremde
wenn ich allein im zimmer bin

(man sieht nicht sein gesicht
was wartet er gekrümmt zur kralle
harrt er des blauen hauchs der ihn belebte
dem mondeslicht das schwächer in die kalten
haine hängt
haine hängtdie tage gingen schnell
glaubt er davonzufahren auf dem stuhl
längst hält ein herbst mit kaltem haar
sein hastiges gebein verhangen

er schwimmt in hundert jahren schlaf
er ahnt nicht daß er selber herbstet
vergangen ist was er vergaß
(der herbst steht kopf der herbst verhöhnt ihn
er merkt es nicht er merkt nicht daß sein atemhecheln
dem atemlosen fehlt der händeringend
ruhlos durch die haine rennt und der
so oft ihn rief
(verkrallt hockt seine hand im haar
das nicht mehr mit ihm denken will

zum schreien seltsam trüben draußen
die sterne die nacht ein

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Noch einmal Wolfgang Hilbig. Seine „abwesenheit“ steckt voller intensiver Texte. Doch das „selbst-portrait“ hat einen ganz besonderen Reiz. Man liest es kaum wie einen Text. Man schaut es eher an wie ein Bild, das jedoch erst auf der Imaginationsleinwand an Kontur gewinnt, wenn die Worte ganz in uns eingedrungen sind.

Das ist eine der Grenzberührungen zwischen den Künsten, wie sie mir immer vorschwebt. Wie Celan an die Tür der Musik klopft, tritt Hilbig hier bei der Malerei über die Schwelle.

bahnhof

Samstag, den 16. Dezember 2006

grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars

sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
S. Fischer Verlag (1979)

••• Der Süden meines gewesenen kleinen Landes war fruchtbar für Dichtung. Er ist es immer noch. Ich glaube sogar, diese Gegend hat einen ganz eigenen Ton hervorgebracht, dem man nachlauschen kann, wenn man Wolfgang Hilbig liest.

Als ich Mitte November 1989 meinen ersten Ausflug nach West-Berlin machte, gab es wenig angenehme Eindrücke. [Ich sollte ein anderes Mal mehr davon schreiben; doch nicht jetzt.] Aber ich kehrte mit zwei Büchern heim: Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und dem Gedichtband „abwesenheit“ von Wolfgang Hilbig, der in der DDR verboten war. Zum ersten Mal gehört hatte ich von Hilbig in einer kalten Nacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof.

bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

Mit Undine Materni, die mir diese Verse auf dem Bahnsteig vorsagte, war ich oft und über vieles herzlich uneins. Nicht aber, was Hilbig betrifft. Wir standen staunend und in großer Bewunderung vor diesen Versen. Hilbig traf mit ihnen schmerzlich genau. Dass seine in „abwesenheit“ zusammengestellten, zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte in der DDR nicht erscheinen konnten, lag auf der Hand.

Seine Biographie versetzte mich in Angst und Schrecken: Erdbauarbeiter, Aussenmonteur, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und schliesslich Heizer. In den wenigen Monaten meines Nachtpförtnerdaseins habe ich mir oft genug ausgemalt, wie das mit mir werden soll, wenn es weiter mit der Anpassung hapert. Wenn ich weiter schreiben und unbedingt schreiben will, den „Mund voll Wind“, wie Hilbig es ausdrückte. Von solchen Aussichten träumt es sich nicht gut.

Ich hatte Glück. Mein Randstehen dauerte nur wenige Monate. Dann waren die Grenzen offen; und der Rest erledigte sich schnell. Ich hatte Glück und war – bei aller beunruhigenden Unsicherheit über die bevorstehende Zukunft – sehr erleichtert.

An Hilbigs „bahnhof“ musste ich an jenem Tag im November denken, als ich mich durch die Katakomben des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstrasse drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war. Und so ging ich in die nächste grössere Buchhandlung und kaufte mir mein Exemplar „abwesenheit“ und trug es nach Hause.