fragwürdige rückkehr (altes kesselhaus)

Montag, den 7. September 2009

Altes Kesselhaus (Ravensburg)
Altes Kesselhaus (Ravensburg

als wär seither noch keine zeit vergangen
faulen im salpeterweiß die selben wände
und in den winkeln wie seit ewigkeiten hangen
die vagen spinnen noch an ihrer fäden ende

die stühle sind mit staub bedeckt und zeigen
wie nah sie dem zerbrechen sind im golde
der sonnenflecken die durch blind zersprungne scheiben
hereingefallen sind im roten abendneigen

es ist als ob ich wiederkommen sollte
und etwas auch als wollt es mich vertreiben
es ist als ob noch keine zeit vergangen wäre

säumnis –
säumnis –als zögerte noch immer in den wänden
weil ich nicht wegbleib und nicht wiederkehre
ein feuriger wink von geisterhaften händen.

Wolfgang Hilbig, aus: „die versprengung“
© S. Fischer Verlag (2002)

••• Durch eine höchst unwillkommene Magengeschichte ins Bett geworfen, habe ich gestern per Laptop DVD geschaut: »Der Rote Kakadu«. Aus irgendeinem Grunde hatte ich eine seichte Komödie à la »Sonnenallee« vermutet. Das war es nun gar nicht.


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Sonett Nr. 19

Donnerstag, den 3. September 2009

Nur eines möcht ich nicht: daß du mich fliehst.
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst.
Denn wenn du taub wärst, braucht ich, was du sagst
Und wenn du stumm wärst, braucht ich, was du siehst

Und wenn du blind wärst, möcht ich dich doch sehn.
Du bist mir beigesellt, als meine Wacht:
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn!

So gilt kein: »Laß mich, denn ich bin verwundet!«
So gilt kein »Irgendwo« und nur ein »Hier«
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.

Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei.
Ich aber brauche dich, wie’s immer sei.
Ich sage ich und könnt auch sagen wir.

Bertolt Brecht (1898-1956)

••• Die kleine Reihe mit Liebesgedichten soll einen würdigen Abschluss finden. Und da wir mit einem Sonett von Brecht begonnen haben, soll nach dem Quartett-Muster A-B-B-A auf BrechtFriedFried auch noch ein Brecht-Sonett folgen.

Zunächst dachte ich an »Das zehnte Sonett«:

Am liebsten aber nenne ich dich Muck,
Weil du mir, wenn du aufmuckst, so gefällst


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Das erste Sonett

Freitag, den 28. August 2009

Holding Hands © orangevolvogrl86@deviantart.com (2003)
Holding Hands – © orangevolvogrl86@deviantart.com (2003)

Als wir zerfielen einst in Du und Ich
Und unsere Betten standen Hier und Dort
Ernannten wir ein unauffällig Wort
Das sollte heißen: ich berühre dich.

Es scheint: solch Redens Freude sei gering
Denn das Berühren selbst ist unersetzlich
Doch wenigstens wurd »sie« so unverletzlich
Und aufgespart wie ein gepfändet Ding.

Blieb zugeeignet und wurd doch entzogen
War nicht zu brauchen und war doch vorhanden
War wohl nicht da, doch wenigstens nicht fort

Und wenn um uns die fremden Leute standen
Gebrauchten wir geläufig dieses Wort
Und wußten gleich: wir waren uns gewogen.

Bertolt Brecht (1898-1956)

••• Was weiß denn ich, welche Wege mitunter die Assoziationen nehmen?! Heute fielen mir spontan zwei Bruchstücke dieses Gedichtes ein. Da war zunächst das erste Quartett und dessen Schluss: »ich berühre dich«. Und die letzte Zeile wusste ich noch: »Und wußten gleich. wir waren uns gewogen.«

Ich berühre dich… Wieviel Zärtlichkeit steckt in diesen drei Worten!


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Gar nicht nette Sonette

Donnerstag, den 13. März 2008

Luís de Camões
Luís de Camões (1524-1580)

Luís de Camões (1524-1580) gilt dank seiner „Lusiaden“ als portugiesischer Nationaldichter, dessen Todestag am 10. Juni als Nationalfeiertag begangen wird. Der Elfenbein Verlag hat nun die Gedichte des Renaissance-Dichters in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht, die sich stark an sein Vorbild Petrarca anlehnen, mit Ironie und Sprachwitz diesen aber auch parodieren.

Deutschlandradio Kultur

••• Wirklich preiswert ist diese 1000-Seiten-Edition mit Gedichten des portugiesischen Shakespeare-Zeitgenossen nicht. Glaubt man den Rezensionen haben sich jedoch Übersetzer (Hans-Joachim Schaeffer) und der Verlag mit Erfolg bemüht und eine umfassende zweisprachige Edition des großen Sonettendichters vorgelegt.

Die Bauern überliefern

Mittwoch, den 5. März 2008

Maserung in Nussbaum-Holz
Maserung in Nussbaum-Holz

Die alten Bauern sagen, daß am Binsenbruch
sie eines Tages des Büdners junge Magd gefunden,
die hing, den Rock kreuzweis mit Bast
eng unter den Knien zusammengebunden,
erwürgt am langen Schultertuch,
wippend am niedern Nußbaumast.

Die alten Bauern sagen, daß seit jenem Tag
kein Pferd das Laub des Nußbaums fressen mag,
und daß das Vieh, wenn es im Umkreis weidet,
den giftigen Schatten dieses Nußbaums meidet.

Die Bauern überliefern, daß sommers in dem Tal
die grünen Raupen fressen die grünen Bäume kahl.

Peter Huchel (1903-1981)
aus: „Gesammelte Werke, Bd. 1, Die Gedichte“
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main, 1984

••• Ein Nachtrag noch zum Poesiealbum 277 mit Gedichten von Peter Huchel. Das hier, fällt mir auf, wäre beinahe ein Sonett geworden. Beim ersten Lesen fielen mir tatsächlich nicht einmal die Reime auf, so gefangen war ich vom Bild der Magd im Nussbaum. Huchel nimmt es auch nicht so genau mit dem Versmaß. Aber das kann diesem Gedicht nicht das Geringste anhaben.

Shakespeare • George

Freitag, den 14. Dezember 2007

Was ist mein vers an neuer pracht so leer •
Von wechsel fern und schneller änderung?
Was schiel ich mit der zeit nicht auch umher
Nach neuer art und seltner fertigung.

Was ich nur stets das gleiche schreib • das eine •
Erfindung halt im üblichen gewand?
Dass fast aus jedem wort mein name scheine •
Die herkunft zeigend und wie es entstand?

O süsses lieb • ich schreibe stets von dir
Und du und liebe • ihr seid noch mein plan . .
Mein bestes: altes wort in neuer zier:
Dies tu ich immer • ists auch schon getan.

So wie die sonne täglich alt und neu
Sagt meine liebe schon gesagtes treu.

William Shakespeare, Sonett LXXVI
Umdichtung: Stefan George (1909)

••• Wie ich via Lotrees erfahre, bringt Klett-Cotta im Rahmen der grossen kommentierten George-Ausgabe Anfang 2008 Band 12 mit den Georgeschen Umdichtungen der Shakespeare-Sonette, und zwar – wie der Verlag anmerkt – erstmals in kritischer Edition.


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Bemitleid dieses untier, unmenschheit

Donnerstag, den 15. November 2007

pity this busy monster, manunkind,

not. Progress is a comfortable disease:
your victim (death and life safely beyond)

plays with the bigness of his littleness
– electrons deify one razorblade
into a moutainrange; lenses extend

unwish through curving wherewhen till unwish
returns on its unself.
A world of made
is not a world of born – pity poor flesh

and trees, poor stars and stones, but never this
fine specimen of hypermagical

ultraomnipotence. We doctors know

a hopeless case if – listen: there’s a hell
of a good universe next door; let’s go

e. e. cummings (1943)

bemitleid dieses untier, unmenschheit,

nicht! Fortschritt ist ’ne seuche, die bequem:
dein opfer (tod und leben fest entfernt)

spielt mit der größe seiner winzigkeit
– vergöttern elektronen eine klinge
zur bergkette; und linsen dehnen aus

unwunsch durch krümmen von wo-wann, bis unwunsch
sein unselbst wiederhat.
Die welt der mache
ist nicht die welt des zeugens – armes fleisch

und stern, baum, stein bemitleid, aber nie
dies feine beispiel hypermagischer

ultraomnipotenz. Als ärzte sehn wir:

ein hoffnungsloser fall … hör: nebenan
ist eine höllisch gute welt. Los, gehn wir

e. e. cummings (1943)
Deutsch von: Gisbert Kranz
aus: „Englische Sonette“
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981

••• Vor einigen Tagen stand wieder eine Bücherkiste vor der Tür des Antiquitätengeschäfts unten im Haus. Ich habe zwei dieser kleinen orangefarbenen Reclam-Bändchen vorm Tod durch den Regen bewahren können. Über beide Funde habe ich mich sehr gefreut. Denn das eine Büchlein ist eine zweisprachige Ausgabe von Christopher Marlowes „Edward II“ (von Marlowe, Shakespeares Zeitgenossen, habe ich noch nichts gelesen und brenne darauf, das nun nachzuholen); das zweite trägt den Titel „Englische Sonette“ und enthält ganze 92 davon, im Original und sehr gelungenen deutschen Nachdichtungen von Gisbert Kranz präsentiert.


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