Der See ist ruhig
/Nadia/ Der See ist ruhig. Leise rauschen die Wellen, wenn sie wie eine kühle Hand über den Ufersand streifen. Es ist die immer gleichbleibende Geste: Beruhigung, wie unter Liebenden.
Ich komme vom Blau zum Rot, ich atme mich durch vom Wasser zum Feuer und werde dich fangen und fesseln und dich aussetzen inmitten der Glut meiner Abwesenheit.
Wenn du zu mir kommen willst, mußt du fliegen lernen, die Flügel pflegen, sie spreizen und üben, üben. Du mußt dich emporschwingen, aus der Glut aufsteigen und den See überqueren. Du mußt das Meer überqueren, den Ozean hinter dir lassen und die Provinzen jenseits des Schlafes suchen. Dort werde ich auf dich warten, mit leeren Händen, ein leerer Krug, der gefüllt werden will.
Den Weg mußt du selber finden. Ich kann dir Zeichen geben, leise Signale, die dich vielleicht in die Irre führen, in einen Sturm, ein Gewitter, einen Dauerregen, einen Dorn. Der Weg ist weit, und die Gefahr liegt bei dir. Mich kann sie nicht treffen. Doch du bist ihr ausgeliefert. Du mußt den Mut finden. Du mußt mich ausfindig machen, den Salamander durch alle Feuer jagen, vom Rot zum Blau, dich vom Feuer zum Wasser atmen und feststellen, daß du ein Herz hast, das sich vor Trägheit fürchtet und bewegt sein will und immerfort rasen.
Was immer du warst in meinem Traum, in meinen Wünschen – jetzt bist du ein schwarzer Mann. Dein Mantel ist schwarz, und die Mütze ist schwarz, selbst der Schal und die Augen wie Kohlen. Aber was ich Schwarz nenne, ist nur ein anderes Blau für den Himmel. Es gehört dir nicht, es gehört mir nicht. Es ist blau.
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München, Dezember 2006
Am 4. Mai 2007 um 00:12 Uhr
[…] Zum Schlussstück des “Anderen Blau” nun eines meiner liebsten Benn-Gedichte. Im […]