Seraphen

6. Mai 2012

Glühende Ginsterkohlen

Verehrter Jacoby,

was leibhaftige Feuerengel betrifft, kann ich Ihnen versichern, dass sie unstrittig existieren. Ich muss es wissen, denn ich bin mit einem solchen verheiratet.

Wenn Sie in meinen damaligen Seminaren auch meist zu schlafen beliebten, wird Ihnen doch sicher nicht verborgen geblieben sein, dass ich ein entschiedener Verfechter mystischer Theorien bin. (Mein angeschlagener Ruf innerhalb unseres weltlichen Instituts ist wohl vor allem darauf zurückzuführen.) Und Seraphen, verehrter wissensdurstiger Skeptiker, suchen mit Vorliebe die Nähe von Mystikern.

Meine Ehe mit einem solchen Wesen ist daher nicht verwunderlich.

Als ich meine Frau kennenlernte, war sie knapp siebzehn. Inzwischen geht sie auf die Fünfzig zu, was alles sagt; und sie ist einverstanden damit, dass ich Ihnen, gewissermaßen aus erster Hand, einige Einzelheiten über den Charakter dieser besonderen Kategorie von Engeln anvertraue.

Erstaunlich ist zumeist schon ihre Geburt. Meine Frau, zum Beispiel, kam als prächtig entwickeltes Sechsmonatskind zur Welt. Eine Kleinigkeit. Interessanter ist schon, dass Seraphen (obgleich zu 99,8% weiblichen Geschlechts) zunächst für Jungen gehalten werden, ein Irrtum, der selbstredend für Verwirrung sorgt. Meist jedoch klärt er sich schon nach kurzer Zeit auf.

Ein Hinweis darauf – wenn auch kein Beweis – dass es sich bei einem Wesen um einen Seraphen handelt, ist die Ginsterkohlenglut in dessen Augen, ein Merkmal, das sich leicht erklären lässt: Bedenken Sie immer, dass die Seele eines Seraphen vollständig aus Feuer besteht.

Eine Seraphin verlässt man demnach besser nicht. Eventuelle Versuche enden unvermeidlich im Inferno. Doch wenn Sie bereit sind, diesen Umstand zu akzeptieren, kann ich Ihnen (in Abwandlung von Mischle 31:10) nur dringend raten: »Heiraten Sie sie, denn höher als Perlen ist ihr Preis!«

Verehrter Jacoby, ich versichere Ihnen, dass Ihre Anfrage mich über einen trüben Herbstnachmittag gerettet hat und verbleibe mit besten Grüßen

ganz der Ihre
gez. Simon Seligmann

PS: Da Sie auf den Rabbi Löw von Prag anspielten: Vor etwa vier Jahren ist aus unserer Bibliothek eine sehr wertvolle Handschrift mit dem Titel »Ha-Alephbet d‘Yehuda Liva« [Das Alphabet des Juda Liva] gestohlen worden. Es handelte sich um eine Abschrift des »Sefer Yezirah« [Buch der Schöpfung] nebst einem sehr interessanten Kommentar des Rabbi Löw ben Bezalel. Die Sache ist bis heute nicht aufgeklärt.

PPS: Sagen Sie, glauben Sie etwa tatsächlich an Engel?

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