Neben der Bühne

12. Oktober 2011

Neujahrskonzert 5772 des Jakobsplatzorchesters am 11.10.2011 im Burda-Saal der IKG München
Die Musiker bereiteten sich noch vor. Ich saß bereits neben der Bühne, von wo ich auftreten sollte.

••• Wie angekündigt war ich letzten Sonntag in Garmisch-Partenkirchen, wo das Jakobsplatzorchester die erste von zwei Vorstellen ihres Offenbach-Neujahrskonzerts gab. Ich war so damit beschäftigt, die bereits schneebedeckten Gipfel um Garmisch im Sonnenlicht zu bestaunen, dass ich vergessen habe, diese malerische Kulisse für den Turmsegler zu fotografieren.

Bei diesem ersten Konzert war mein Beitrag zum Neujahrsfest nicht integriert. Mit dem Konzert wurde die Abonnementssaison in Garmisch eröffnet. Aus diesem Anlass gab der Bürgermeister für die Abonnenten zuvor einen Empfang. Dort sollte ich sprechen, und für so ein Stehrumchen war der Text zu lang. Also musste ich improvisieren und die Geschichte mal eben in der halben Zeit erzählen. Das ging auch.

Neujahrskonzert 5772 des Jakobsplatzorchesters am 11.10.2011 im Burda-Saal der IKG MünchenHeute nun gab es in München einen Auftritt, den ich – bei all den Veranstaltungen, die ich schon bestritten habe – doch beeindruckend fand. Zum ersten Mal konnte ich den Musikern zusehen, wie sie sich auf das Konzert vorbereiteten. Ich konnte sogar den Dirigenten Daniel Grossmann kurz vor dem Beginn noch in ein Gespräch verwickeln und seinen Taktstock inspizieren. (Nebenbei habe ich ihm ein Kompliment gemacht für seinen phantastischen Anzug, mit Stehkragen, wow!) Auch zum ersten Mal sollte ich von neben der Bühne auftreten, um meinen Text – auf zwei Teile aufgeteilt – zwischen den Stücken zu sprechen. Also habe ich das Konzert neben der Bühne mitverfolgt.

Schön war’s, und da die Termine nun absolviert sind, kann ich hier auch den Text veröffentlichen. Regelmäßige Turmsegler und Leser der »Leinwand« werden den einen oder anderen Satz schon kennen…

1

Ich bin nicht besonders gesellig. Bücher schreibt man in der Regel allein, in Abgeschiedenheit; und vielleicht schreibt man auch, weil man diese Abgeschiedenheit mag oder an sie gewöhnt ist. Ab und an kommt es aber dennoch vor, dass ich im Kreis von Freunden bei einem Glas Wein oder Single Malt in Erzähllaune komme. Die Geschichten, die ich dann erzähle, beginnen oft mit dem gleichen Satz, und zwar diesem: Ich komme ja aus dem Osten…

Das weiß ohnehin jeder, aber bei dieser Art von Geschichten kann es nicht schaden, gleich einleitend daran zu erinnern, dass in dem Kleinen Land, in dem ich aufgewachsen bin, alles ein wenig – oder gelegentlich auch ein wenig mehr – anders war als in Westdeutschland, in der BRD oder – wie mein damaliger Geschichtslehrer sich gern ausdrückte: bei den Westgoten. Das war für ihn jener Bereich der Welt, der in unseren Schulatlanten als weiße Fläche erschien, als gäbe es dort nichts, keine Städte, keine Landschaften, keine Menschen, ja überhaupt gar nichts von Interesse.

Dabei verhielt es sich doch so: Bei uns gab es vieles nicht, das von Interesse gewesen wäre, ein nennenswertes jüdisches Leben beispielsweise. Mit genauen Zahlen kann ich nicht aufwarten. Ich meine, es gab übers Land verstreut fünf Gemeinden. Die größte davon – in Ost-Berlin – hatte 300 Mitglieder. Nur ein Bruchteil davon war religiös. Für viele, die gleichzeitig Atheisten und Mitglieder der SED waren, bedeutete die Jüdische Gemeinde so etwas wie einen Kulturverein, in dem man gemeinsam anders sein konnte.

Anders zu sein als die Mehrheit, ist in jeder Diktatur ein Problem. Jüdisch zu sein, war im Kleinen Land eine Variante des ultimativen Andersseins. Als ich mich mit etwa 15, 16 für religiöse Fragen zu interessieren begann, habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Meine Großeltern waren eingefleischte Kommunisten. Nach der Rückkehr aus dem Exil in Stalins Sowjetunion hatten sie bedeutende Positionen im Staatsapparat inne. Eine Synagoge haben sie nie betreten. Zum einen war Religion laut Marx nichts anderes als »Opium des Volkes«. Zum anderen gab es Juden im Kleinen Land nur in drei Varianten: vergast, nach Schauprozessen weggesperrt oder außer Landes geflüchtet. In keiner dieser Kategorien fand man sich gern wieder.

Der verbliebene Rest, der sich in den winzigen Gemeinden organisierte, musste also etwas Vitales nicht begriffen haben. Entsprechend eigenwillig war die Gemeinschaft, an die ich Anschluss suchte, indem ich mühsam herausfand, wann und wo die Gottesdienste stattfanden. Meinen ersten Freitagabendgottesdienst habe ich in der Synagoge in der Rykestraße im Prenzlauer Berg erlebt. Ich saß im Mantel auf der Kante eines Stuhls in der letzten Reihe der winzigen Wochentagssynagoge. Sie wurde auch am Schabbes und an den Feiertagen benutzt. Eine Woche später ging ich erneut hin. Diesmal zog ich meinen Mantel aus. Doch auch an diesem Abend wie auch an vielen, vielen folgenden Freitagen wechselte niemand auch nur ein Wort mit mir. Der Grund dafür wurde mir erst Jahre später bewusst. Diverse Gemeindemitglieder und vor allem die Mehrzahl der Vorstände informierten inoffiziell die Staatssicherheit. Die jüdische Gemeinde war vermutlich die am besten ausgekundschaftete Religionsgemeinschaft des Landes, und jeder beargwöhnte jeden, zu den Informanten zu zählen. Kam jemand hinzu, den man nicht kannte, lag es geradezu auf der Hand, dass er im Auftrag kam. Herzlichkeit konnte ich nicht erwarten.

Hebräisch lesen lernte ich mühsam über Monate allein vom Zuhören und Vergleichen der Laute mit den fremden Buchstaben. Mein Vokabular erweiterte ich im Schneckentempo mit Hilfe eines zweisprachigen Gebetbuches, das auslag und das ich natürlich nicht mitzunehmen wagte, so dass sich meine Lektionen auf die eine Stunde pro Woche beschränkten, die der Gottesdienst am Freitagabend dauerte. Es verging über ein Jahr, bis ich Bekanntschaften schloss, noch länger, bis ich Freunde fand. Kaum einer von uns wusste, was wir waren. Die einzige Verbindung zu dem, was uns hätte ausmachen können, waren die alten Gebete und die Überreste einer Tradition, von der die meisten von uns kaum etwas wussten.

Jüdische Identität war daher für mich von Anfang an fest an Religiosität gebunden, und das religiöse Leben fand in der Synagoge statt. Damals erlebte ich alles zum ersten Mal, den gesamten Jahreskreis der jüdischen Feste. Und niemand erklärte mir etwas. Ich taumelte zwischen diversen Vermutungen, Überraschungen und Irrtümern. Religiöses Lernen war ein Problem, zumal wenn man für einen Spitzel gehalten wird.

Es gab im Gemeindehaus in der Oranienburger Straße eine kleine Bibliothek. Dort ließ sich einiges finden. Eine weitere Informationsquelle war das Informationsblatt der jüdischen Gemeinden, das 4x im Jahr erschien und das man in der Bibliothek kaufen konnte. Oft war dieses Blatt allerdings auch eine Quelle absurder Missverständnisse. Das hatte vor allem mit meinem geringen Wissen zu tun und mit der Schwierigkeit, ausgerechnet in Deutschland Hebräisch nur vom Zuhören und Buchstabenvergleichen im Gottesdienst lernen zu wollen.

Im Laufe der Jahrtausende haben sich nämlich weltweit allerlei Varianten entwickelt, das Hebräische auszusprechen. Die aschkenasische (also in Deutschland übliche) Variante gehört meiner – selbstredend völlig unmaßgeblichen – Meinung nach zu den absurdesten. Da wird laufend aus einem O ein AU und aus jedem zweiten T ein scharfes S. Wer, frage ich, soll das verstehen? Und schon erst recht, wenn man ahnungslos in Fragen der jüdischen Religion ist, von hebräischen Aussprachevarianten ganz zu schweigen. Auf der letzten Seite der Gemeindezeitschrift jedenfalls wurden jeweils die Gottesdienstzeiten veröffentlicht. Da las ich dann: »Rausch Haschaunoh – Beginn dann und dann«, und ich war einmal mehr ratlos.

Ich stellte mir einen graurauschebärtigen Herrn Haschaunoh vor, der, heftig berauscht, schlafend den Feiertag verbringt. Aber warum? Von dieser Sitte hatte ich in der Bibel nichts gelesen.

Der Gottesdienst sollte früher beginnen als an anderen Feiertagen oder am Schabbat. Womöglich, dachte ich, mussten wir dem Herrn Haschauno möglichst früh am Morgen unsere Aufwartung machen, wenn er noch nicht allzu viel getrunken hatte.

Ich schwänzte die Schule, um in die Synagoge gehen zu können. Herr Haschauno war nicht da. Es war auch sonst niemand betrunken. Und der Gottesdienst dauerte – ewig. Stunde um Stunde verging. Schließlich schlief ich ein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Geweckt wurde ich jedoch auf sehr eindrückliche Weise durch den lauten, klaren Ton des Schofars, den ich noch nie zuvor gehört hatte.


Shofar-Töne zu Rosh Hashana

Eines hatte mir der Ton des Schofars sofort klargemacht: An diesem Tag ging es um etwas Ernstes, nicht um Alkohol oder sonst irgendeinen Rausch. Hinter »Rausch Haschauno« steckt Rosh Hashana, das »Haupt des Jahres«, Neujahr; aber mit dem bürgerlichen Jahreswechsel, das an Silvester feuchtfröhlich gefeiert wird, hat das jüdische Neujahrsfest wenig gemein. Tatsächlich, erfuhr ich, wurden wir zu Gericht gerufen, und nicht etwa als Zeugen, sondern man saß über uns zu Gericht, über jeden einzelnen von uns. Deswegen trugen die Männer weiß, die Farbe der Trauer.

Sie trugen ihre Totengewänder.

Neujahrskonzert 5772 des Jakobsplatzorchesters am 11.10.2011 im Burda-Saal der IKG München
Und so war mein Ausblick während des Konzerts

2

Ein großer Teil des Feiertagsgebets besteht aus liturgischen Gedichten, sogenannten Piyutim. Auf die Gefahr hin, eingefleischte Liebhaber dieser Kunst zu bestürzen: Mir fehlt an diesen Texten oft wirkliche Originalität, sei es im Thema oder in der Form. Aber selbstredend gibt es auch – und nicht selten – echte poetische Entdeckungen unter diesen Texten. Von den vielfältigen, häufig über Jahrhunderte tradierten Formen hat mich immer das Achrostichon besonders interessiert. Hier bilden die ersten Buchstaben der Zeilen zumeist einen Namen oder einen Satz, oft jedoch auch die Alphabetfolge. Ein Beispiel für diese Formenvariante ist das wohl berühmteste Piyut für Rosh Hashanah: Unetane Tokef.

An meinem ersten Rosch Haschanah in Ostberlin hatte mich das Schofar gerade rechtzeitig geweckt, um dieses Piyut nicht zu verschlafen. Man sagt es stehend, vor dem geöffneten Torah-Schrein, und es handelt sich um ein Gebet, das ans Herz und in die Seele geht. Es fasst den Charakter der Hohen Feiertage – Rosch Haschanah und Yom Kippur – poetisch und anrührend zusammen.

Dass der Verfasser – es wird Rabbi Amnon von Mainz zugeschrieben – die Form des Alephbet-Achrostichons gewählt hat, ist sicher kein Zufall. Denn sein Gebet war ein Tikkun, eine Wiedergutmachung oder auch Wiederherstellung. Gemäß der Tradition der jüdischen Mystik wurde die Welt aus den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets erschaffen, und so sei es auch möglich, durch die Buchstaben, durch Worte, beispielsweise ein Gebet, etwas Zerstörtes wieder zu reparieren.

Um zu verstehen, warum dieses Piyut Jahr für Jahr immer wieder viele Beter zu Tränen rührt, muss man die Geschichte kennen, die sich um die Entstehung dieses Gebetes rankt. Und daher möchte ich sie Ihnen heute erzählen. Ich zitiere aus dem Buch »Or Zarua« von Rabbi Yitzhak ben Mosche aus Wien (1862).

»Ich fand eine Handschrift von R. Efraim b. Jacob aus Bunna (Bonn). Darin wird geschildert, dass R. Amnon aus Mainz ein böses Schicksal ertragen musste und danach das Unetanneh Tokkef verfasste.

Ein Geschehnis über Rabbi Amnon, der eine angesehene Persönlichkeit war, reich, von vornehmer Herkunft und von schöner Gestalt und schönem Antlitz. Und die hohen Beamten und der Fürst begannen von ihm zu fordern, dass er sich zu ihrer Religion bekennen solle. Er aber weigerte sich, sie anzuhören. Und auch als sie Tag für Tag auf ihn einredeten, hörte er nicht auf sie, obwohl der Befehlshaber ihn drängte. Eines Tages aber, als sie ihn eindringlich baten, antwortete R. Amnon, dass er sich beraten lassen möchte und die Sache drei Tage überdenken müsse. Er sagte dies, damit er sie von sich fernhalten konnte. Und nachdem Rabbi Amnon vom Fürsten weggegangen war, kam er in seinem Herzen zur Einsicht, dass ein so zweifelhafter Ausdruck aus seinem Mund gekommen war, dass er Rat und Überlegung benötigte, wie er den lebendigen Gott wieder ehren könnte. Er kam nach Hause, wollte nicht essen und nicht trinken, und er erkrankte. Und es kamen alle seine Verwandten und Freunde, um ihn zu trösten. Er aber weigerte sich, Trost anzunehmen und sprach: Ich werde wegen meiner Aussage trauernd ins Scheol fahren. Und er beweinte es und war bis ins Innerste betrübt.

Am dritten Tag, als er Schmerzen litt und besorgt war, fragte der Fürst nach ihm, er aber sagte: Ich werde nicht gehen! Da sandte der Erzfeind abermals noch mehr Fürsten und vornehmere als die anderen, er aber weigerte sich zu gehen. Da sagte der Fürst: Eilet, bringt den Amnon wider seinen Willen! Und sie drängten und brachten ihn. Und der Fürst sagte zu ihm: Was soll dies, Amnon, weshalb bist du nicht zur Zeit, welche du selbst bestimmt hast, erschienen, um mir eine Antwort zu geben und meinen Wunsch zu erfüllen? Amnon antwortete und sagte: Ich werde mir selbst ein Urteil sprechen. Denn die Zunge, die gesprochen und dich angelogen hat, ihr Urteil sei es, dass sie entfernt werde. Rabbi Amnon wollte mit seinen Worten Gott als Heiligen bezeugen. Da erwiderte der Fürst: Deine Zunge werde ich nicht entfernen, denn sie sprach Gutes, aber die Füße, die zu der von dir bestimmten Zeit nicht gekommen sind, werde ich entfernen, und den restlichen Körper werde ich foltern. Und der Erzfeind gab den Befehl, und man entfernte die Glieder seiner Hände und Füße, und bei jedem einzelnen Gelenk fragte man ihn, ob er nicht doch zu ihrem Glauben umkehren möchte, er aber sagte nein! Und es war, als sie die Folterung beendeten, da befahl der Bösewicht, den Rabbi Amnon mit all seinen Gliedern in eine Hülle zu legen, und so schickte man ihn nach Hause. […]

Nach diesen Begebenheiten näherte sich das Datum von Rosch-Haschannah. Da verlangte Rabbi Amnon von seinen Verwandten, ihn samt seinen Gliedern zur Synagoge zu tragen und neben den Vorbeter zu legen. Man tat dies so. Und als der Vorbeter die Keduscha vortragen wollte, sagte R. Amnon zu ihm: Warte noch einen Moment, ich werde den großen Namen heiligen. Und er sprach mit lauter Stimme: Zu dir steige die Keduscha empor, das heißt: Ich habe deinen Namen um deines Königreiches willen geheiligt und ich habe deine Einzigkeit bekannt.

Und danach sagte er das Unetanneh Tokkef Keduschat ha-Yom zur Heiligung des Tages. […] Und als er das Piyut beendet hatte, wurde er von der Welt getrennt, und er war verborgen…«

Und dies ist der Piyut, den Rabbi Amnon der Überlieferung nach an Rosh Hashanah sagte, bevor er starb.


Unetane Tokef (Konzertaufnahme)
Naftali Herstik & „Rinat“ National Choir
Orgel: Raymond Goldstein
© Beth Hatefutsoth, Tel Aviv

Wir wollen die Macht der Heiligkeit des Tages schildern,
denn furchtbar ist er und erschreckend;
an ihm wird sich Dein Königtum erheben
und Dein Thron auf Gnade gegründet sein,
und Du wirst auf diesem thronen in Wahrheit.
Wahrheit ist es, dass Du Richter bist,
der zurechtweist, der weiß und Zeuge ist,
der schreibt und besiegelt, zählt und berechnet;
Du gedenkst alles Vergessenen,
Du öffnest das Buch des Gedenkens, und aus ihm wird vorgelesen,
und die Unterschrift eines jeden Menschen ist darin enthalten.
In das große Schofar wird geblasen,
und ein leiser dünner Ton ist vernehmbar;
die Engel sind bestürzt, von Zittern und Beben ergriffen.
Und sie sprechen: Dies ist der Tag des Gerichts,
an dem das Heer des Himmels im Gericht zu prüfen ist,
denn auch sie sind in Deinen Augen nicht schuldlos im Gericht,
und alle Geschöpfe der Welt führst Du vorbei wie eine Herde.
Wie der Hirt seine Herde prüft, seine Schafe
unter seinem Stab hindurchgehen lässt,
so lässt Du vorbeiziehen, zählst, berechnest
und prüfst Du die Seele jedes Lebewesens
und bestimmst die Grenze jedem Geschöpf und schreibst ihr Urteil.
An Rosch Haschana wird man eingeschrieben
und am Jom Kippur besiegelt:
Wie viele hinübergehen und wie viele geboren werden,
wer leben wird und wer sterben,
wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit,
wer durch Feuer und wer durch Wasser,
wer durch das Schwert und wer durch ein wildes Tier,
wer durch Hunger und wer durch Durst,
wer durch Sturm und wer durch Seuche,
wer durch Ersticken und wer durch Steinigung,
wer Ruhe haben wird und wer Unruhe,
wer Rast findet und wer Zerrissenheit,
wer frei sein wird von Sorgen und wer voller Leiden,
wer erhöht wird und wer erniedrigt,
wer reich sein wird und wer arm.

Umkehr und Gebet und Wohltätigkeit wenden das böse Verhängnis ab.

Denn wie Dein Name so ist Dein Ruhm: schwer zu erzürnen, leicht zu besänftigen, denn Du willst nicht den Tod des Todesschuldigen, sondern dass er von seinem Wandel ablasse und lebe, und bis zum Tag seines Todes wartest Du auf ihn, wenn er umkehrt, nimmst Du ihn sofort an. Es ist wahr, dass Du ihr Schöpfer bist und ihren Trieb kennst, denn sie sind Fleisch und Blut. Des Menschen Ursprung kommt vom Staub, und an seinem Ende kehrt er zum Staub zurück, unter Lebensgefahr erwirbt er sein Brot; er gleicht einer zerbrochenen Scherbe, trockenem Gras, einer welkenden Blume, vorüberziehendem Schatten, schwindender Wolke, verwehtem Hauch, dahinfliegendem Staub und dem flüchtigen Traum.

Ich hoffe, ich habe Ihnen mit dieser Geschichte nicht die unbescherte Freude an den Offenbach-Melodien getrübt, die heute hier gespielt werden. Aber man hat mich gebeten, Ihnen etwas über Rosch Haschanah zu erzählen. Und die Hohen Feiertage heißen nicht ohne Grund auch „ehrfurchtsvolle Tage“. Sie sollen uns daran erinnern, dass unser Leben keine Selbstverständlichkeit ist. Was wir besitzen, ist uns nur geliehen, und wir selbst sind nur vorübergehend hier und haben Aufgaben in dieser Welt. Die „ehrfurchtsvollen Tagen“ sollen uns daran erinnern, dass unser Leben ein Wunder ist, ein Wunder, das sich jedes Jahr und jeden Tag erneuert.

Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass die „ehrfurchtsvollen Tage“ direkt übergehen in das Laubhüttenfest, das wir ab kommenden Donnerstag feiern – ein Fest der Lebensfreude und damit ein schöner Kontrapunkt zu den Hohen Feiertagen des Jahreswechsels.

© Benjamin Stein (2011)

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