Ein goldener Drachen

20. Juni 2011


One of the dragons from The Nine Dragons handscroll (九龙图/九龍圖), painted by the Song-Dynasty Chinese artist Chen Rong (陈容/陳容) in 1244 CE. Ink and some red on paper. The entire scroll is 46.3 x 1096.4 cm. Located in the Museum of Fine Art – Boston, USA. Francis Gardner Curtisragon is used in the Chinese New Year, a dragon with people under a long costume. The dragon can also be seen on cermonial dress and ancient artifacts.

Dass ich mit seiner Zeichnung allerhand verbinden würde, davon konnte Matana also ausgehen, und dass ich Massagen mochte, wusste er ebenfalls. Mir war nur nicht klar, wie das eine mit dem anderen zusammenhängen sollte. Ich ging davon aus, dass ich in dem Thai-Salon einen Hinweis finden würde. Also zögerte ich nicht, dort anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Es musste einen Unterschied geben zwischen dieser Thai-Massage und den Wellness-Behandlungen in Patricias Salon. So viel war sicher. Aber ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ, als ich mich einige Tage später auf den Weg machte, um meinen Gutschein einzulösen.

Ich musste in die Stadt fahren. Der Salon lag in einer wenig vertrauenerweckenden Gegend, nur ein paar Straßen entfernt von der Galerie, in die mich Katelyn seinerzeit gelockt hatte, um mich durch Haymans Arkadien zu führen. Es handelte sich um ein unauffälliges Ladengeschäft. Das Schaufenster war von innen mit schweren bunten Stoffbahnen mit Paisley-Muster verhängt, an die mit Stecknadeln künstliche Lotusblumen geheftet waren. Kein Schild wies darauf hin, was hier angeboten wurde. Die massive Holztür hatte außen keine Klinke, und der kleine Sehschlitz in Augenhöhe war ebenso verhängt wie das Schaufenster. Anscheinend legte man keinen Wert auf Laufkundschaft. Womöglich handelte es sich auch um eine Insider-Adresse, und es wurden ohnehin nur Stammkunden bedient und solche, die auf Empfehlung von Stammkunden kamen. Es gab keine Klingel, und ich zögerte zu klopfen. Wohin hatte Matana mich nur geschickt?

Eine Sekunde lang war ich versucht umzukehren, doch da bewegte sich plötzlich der Stoff in dem Sichtfenster, als hätte jemand, von mir unbemerkt, von innen die Straße beobachtet und mich gesehen. Die Tür öffnete sich einen Spalt.

Ed Rosen, sagte ich.

Treten Sie ein, hörte ich, und erst, als ich durch die Tür geschlüpft war, sah ich, wer mir geantwortet hatte. Die Frau war klein, kaum über einsfünfzig, schlank, ja geradezu schmächtig. Sie trug ihr Haar zu einem dicken seitlichen Zopf geflochten, der schwarz schimmernd über Schulter und Brust fiel und dessen Ende, spitz wie ein Pinsel, beinahe bis zur Hüfte reichte. Das knöchellange, ärmellose Kleid mit strengem Stehkragen erinnerte mich eher an chinesische Mode, wie ich sie gelegentlich in Geschäften in Chinatown bewundert hatte. Auf der dunkelblauen Seide prangte ein goldener Drache, der sich am linken Bein emporschlängelte, mit gewaltigen Pranken den schlanken Hals umfasste und seinen Kopf an ihre Schulter lehnte, so dass es aussah, als würde die aus dem aufgerissenen Maul schnellende, doppelt gespaltene Zunge über ihren Busen lecken.

Der Raum war in das schwache Licht roter Papierlampions getaucht, die von der Decke hingen. Es war warm, beinahe zu warm. Aus dem hinteren Bereich des Ladens, der im Dunkel lag, hörte ich die sphärischen Klänge einer Musik, die mir völlig unbekannt war. Es roch angenehm nach Yasmin.

Die Szene hatte etwas Gespenstisches. Die Frau verneigte sich höflich und schloss die Tür. Sie mochte kindlich wirken, war jedoch sicher über dreißig. Wortlos wurde ich in den hinteren Teil des Ladens gebeten, wo ein gläserner Couchtisch mit Illustrierten und zwei schwere Ledersessel standen. Das alles passte nicht recht zusammen. Ich konnte den Eindruck nicht abschütteln, dass hier irgendetwas nicht stimmte und ich mich womöglich in der wahllos zusammengestückelten Asia-Kulisse eines fragwürdigen Etablissements befand, aber keinesfalls in einem seriösen Thai-Salon. Wir setzten uns. Hinter ihr sah ich zwei geschlossene Türen und daneben, vor einem Durchgang, einen bunten Perlenvorhang. Dann fiel mein Blick wieder auf den goldenen Drachen, wanderte vom Maul über den geschlängelten Rücken bis zum Schwanz und blieb schließlich an den grazilen, nackten Füßen hängen, die aufreizend unterm Saum des Kleides hervorlugten.

Wo liegt das Problem? fragte die Frau.

Das kann ich nicht sagen, antwortete ich leise nach einem kurzen Zögern: Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, wo ich bin. Ich reichte ihr meinen Gutschein, den sie, ohne ihn nur anzusehen, beiseite legte.

Dann werden wir es herausfinden, sagte sie: Seien Sie unbesorgt. Ich hob ein wenig ratlos die Hände. Sie stand auf, öffnete die Tür neben dem Perlenvorhang und winkte.

Kommen Sie, sagte sie: Machen Sie es sich bequem. Ich bringe das Fußbad.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

2 Reaktionen zu “Ein goldener Drachen”

  1. ksklein

    Tolles Drachenbild.

  2. Perlen

    Sehr gelungene übersetztung von Elizabeta. Bring mich leicht ins Schaudern.

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