Psychodynamik

12. Juni 2011

Katelyn ging über den Vorfall hinweg. Das erleichterte mich zunächst, weil ich nicht ahnte, dass mich diese Art, die Situation zu handhaben, auf lange Sicht zu einem Gefangenen machte. Wir trafen uns nach wie vor, und da wir nun auch offiziell beruflich miteinander zu tun hatten, verbrachten wir mehr Zeit miteinander als je zuvor. Als Trainerin gab sich Katelyn bestimmt, wenn auch nicht übermäßig streng oder fordernd. Als Frau behandelte sie mich nicht etwa kühler. Unser Verhältnis blieb gelöst und zärtlich, als wäre nichts Irritierendes geschehen. Dennoch hatte sich etwas verändert. Ich wusste, dass sie jeden Augenblick die Frage stellen konnte, vor der ich mich fürchtete, dass sie jederzeit den Vorwurf erheben und eine Erklärung einfordern konnte, und ich hätte nichts von Substanz zu meiner Verteidigung vorbringen können. Ich weiß nicht einmal, ob es ihr bewusst war. Ihr Schweigen jedenfalls und der Umstand, dass ich es akzeptierte, bescherte mir eine Art emotionaler Gefangenschaft. Ich richtete mich in meinem Schuldgefühl ein und arrangierte mich mit dem von mir selbst verhängten Strafmaß, dem Bewusstsein nämlich, die unausgesprochene Verletzung nie wieder gutmachen zu können.

Über die Jahre gab es wieder und wieder Situationen, in denen ich mein schwarzes Schaf blöken hörte. Dann zuckte ich zusammen, und worum auch immer es gerade gehen mochte, ich reagierte nicht wie ein freier Mann, sondern wie ein verschüchterter Schuldner, der nichts zu fordern hatte, solange das Schuldkonto nicht abgetragen war. Und dass es nicht abzutragen war, hielt ich für ausgemachte Sache.

Übrigens mussten Jahre vergehen, bevor ich mir dessen bewusst wurde, und als ich merkte, dass Katelyn mich gelegentlich wie einen folgsamen Hund am Halsband führen konnte, waren die Angst und meine jeweils irrationale Reaktion darauf bereits so gut eingeübt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mich jemals wieder daraus befreien zu können.

Zunächst allerdings überwog ganz klar die Erleichterung. Wir blieben einander erhalten, und Katelyn übernahm die Regie in meinem körperlichen Transformationsprozess. Ich konnte von Glück sagen, dass Matana sie mit meinem Personal Training betraut hatte, denn das Programm, das sie mir verordnete, war deutlich leichter durchzuhalten, als ich befürchtet hatte. Katelyn schickte mich nicht etwa für zwei Stunden täglich ins firmeneigene Gym. Sie quälte mich nicht mit brachialem Krafttraining, Diäten und ermüdenenden Cardio-Sessions. Ihr Trainingsplan war so unspektakulär, dass ich nicht für möglich gehalten hätte, dass ich damit in so kurzer Zeit so viel erreichen würde.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

Eine Reaktion zu “Psychodynamik”

  1. thymianteppich

    fleißig, fleißig ;) die spannung steigt!

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