Matana mit seinem enzyklopädischen Wissen zitiert gern große Männer, Thomas Kardinal Wolsey etwa: »Sei sehr, sehr vorsichtig, was Du in deinen Kopf hinein lässt, denn du wirst es nie und nimmer wieder heraus bekommen.« Und damit haben beide recht, Wolsey, der es sagte, und Matana, der es sich nicht entgehen lässt, mich gelegentlich daran zu erinnern. Wie sehr ich mich im Laufe der Jahre auch gesträubt haben mag gegen die Sheol-Geschichte meines Bar-Mitzwa-Lehrers, ich werde sie doch nicht los. Allen inneren Widerständen zum Trotz spukt sie mir beharrlich im Kopf umher, und es gibt Augenblicke, in denen mich Zweifel beschleichen und ich annehme, es könnte am Ende doch etwas Wahres daran sein.
Eben zum Beispiel, als ich schlaftrunken ins Dunkel blinzelte und den Huf entdeckte.
Ausgerechnet ein Huf!
Es wird Zeit, dass ich die Augen öffne und mich vergewissere. Befinde ich mich womöglich in der künftigen Welt? Bin ich im Schlaf ins Sheol entglitten? Dann wäre mein Erwachen gar kein Erwachen gewesen, sondern fühlte sich lediglich so an, eine Irreführung, und der Huf, zu dem sicher noch ein zweiter gehört, wäre die mir zugedachte Strafe für die Dauer meiner Existenz in diesem nächsten Zwischenreich.
Abwegig wäre das nicht. Denn Wohlbefinden steigt bei mir von den Füßen auf. Sie mir zu nehmen und durch Hufe zu ersetzen, wäre definitiv eine Strafe, eine schmerzliche und perfide, denn wenn es etwas gibt, das ich an mir liebe, dann sind es meine Füße. Oder sollte ich in der Vergangenheit denken: liebte?
Es hat lange gedauert, bis ich entdeckte, dass eine halbstündige Fußmassage mich zu entspannen vermag wie eine ganze Woche Urlaub unter der Sonne. Bis dahin hatte ich meinen Körper bestenfalls ignoriert, wenn nicht gar vernachlässigt. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich schön sein könnte und also auch nicht, dass es etwas in dieser Richtung zu lieben, zu pflegen und zu bewahren gäbe. Meine Frisuren waren nie à la mode, meine Kleidung ebenso wenig. Ich achtete nicht darauf, wie ich überhaupt wenig auf mich achtete, auf Äußerliches jedenfalls, Körperliches. Was mir etwas bedeutete, spielte sich inwendig ab, war nicht von Verschleiß bedroht und von Moden und dem Urteil anderer unabhängig. Jedenfalls gefiel es mir, es so zu behaupten.
Es gibt kein einziges Foto von mir aus dieser Zeit, von dem ich wüsste. Ich habe sie alle vernichtet. Das ist zehn Jahre her. Damals hatte ich mich bei einer aufstrebenden Software-Firma im Silicon Valley als Entwickler beworben – aus Understatement, das gut und gern als Arroganz ausgelegt werden konnte. Immerhin hatte ich in Harvard am »Center for Biomedical Informatics« promoviert und war ausgewiesener Spezialist für komplexe Softwaresysteme, die versuchten, eine Brücke zu schlagen zwischen organischem Nervengewebe und anorganischen, nervenähnlich arbeitenden Systemen – in Maschinen, in Computern. Dass ich mich für eine Stelle als Codierknecht – nichts anderes war es – beworben hatte, musste auf Unverständnis stoßen und Verdacht auslösen; und wahrscheinlich war genau dies der Grund, weshalb der Gründer und Chef besagter Firma persönlich das Vorstellungsgespräch mit mir führen wollte. Das erfuhr ich vom Pförtner, als ich mich anmeldete. Ich wurde von einer Praktikantin am Tor abgeholt und zum Vorzimmer des Chefs eskortiert. Ich musste nicht warten. Kaum war ich dort, öffnete sich die Tür des Vorstandsbüros, und ein Mann trat ein, dessen Erscheinung mich so irritierte und zugleich faszinierte, dass ich fürchtete, ich würde bei diesem Interview kein Wort über die Lippen bringen.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 21. Januar 2011 um 00:06 Uhr
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Am 25. Januar 2011 um 06:00 Uhr
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