Die Metapher Wüste

18. Juni 2010

Die Wüste Negev, Quelle: Wikipedia
Die Wüste Negev • Quelle: Wikipedia

To see a world in a grain of sand,
And a heaven in a wild flower,
Hold infinity in the palm of your hand,
And eternity in an hour.

William Blake (1757-1827)
aus: »Auguries of Innocence« (1803)

••• Die Schrift – und damit die Literatur – kommt aus der Wüste. Was wunder, dass die Literatur aller Epochen immer wieder zum Sujet der Wüste zurückkehrt? So schreibt es Chaim Noll in seinem ebenso poetischen wie stoffreichen und inspirierenden Essay »Die Metapher Wüste • Literatur als Annäherung an eine Landschaft«, erschienen im Heft 3/2010 der »Sinn und Form«.

Geschrieben ist der Essay bereits 2005. Unter dem Titel »Jenseits der Katastrophen • Die Erforschung der Wüste als existenzielles Konzept« kann man ihn von der Website Chaim Nolls als PDF herunterladen. *)

Wie kann es sein, dass ein und derselbe Artikel zwei so unterschiedliche Titel tragen kann? Tatsächlich leistet Chaim Noll hier erstaunlich Interdisziplinäres. Er berichtet von der momentan weltweit voranschreitenden Desertifikation (dem Zu-Wüste-Werden) großer Landflächen, gibt ein wenig Einblick in den aktuellen Stand der Wüstenforschung; vor allem aber nähert er sich dem Thema als Literat vor einem psychologischen und auch religiösen Hintergrund.

Die Wüste gehört zu den großen Siegern unserer Tage. Und es scheint, als wäre dieser Sieg für den Menschen nichts anderes als eine Katastrophe. Weltweit, unaufhaltsam expandieren Wüsten, Trockengebiete und Steppen, jedes Jahr ungefähr um ein Territorium, das der Fläche Deutschlands entspricht. Von desertification, wie Wissenschaftler den Vorgang nennen, sollen weltweit etwa anderthalb Milliarden Menschen betroffen sein: in dem Sinne, dass die Erde, auf der und von der sie leben, sich in Steppe oder Wüste verwandelt.

Die Heimsuchungen der Wüste spielen in den täglichen Katastrophennachrichten eine geringere Rolle als die durch Überfülle von Wasser verursachten wie Flutwellen, Überschwemmungen und Unwetter. Dabei gehen sie, global betrachtet, Hand in Hand, die Dürre am einen Ort und die Überwässerung am anderen, das Defizitäre und das Verschwenderische, als wolle die Natur uns Menschen unser Dilemma vor Augen führen, das, wozu wir nicht fähig sind, was wir trotz aller Bemühungen kaum jemals erreichen: vernünftigen Ausgleich.

Die Wüste, so Noll, erinnere uns an »eine alte Weisheit des Menschen […]: Nichts, was wir haben, ist wirklich unser, folglich verlieren wir, was wir nicht schützen und bewahren. Dafür steht das Doppelgesicht der Wüste, ihr Pendeln zwischen vitalem Weidegrund und tödlichem Trockenland.«

Chaim Noll kennt die Wüste. Er lebt im israelischen Beersheva am Rand der Negev-Wüste, die immerhin 60% des kleinen Landes Israel ausmacht, jedoch nur 10% seiner Einwohner beherbergt. Der Negev aber war nicht immer wüstes Land. Archäologische Funde belegen, dass zur Zeit der historischen Israeliten der Negev dicht besiedeltes Kulturland gewesen sein muss. Dies aber nicht etwa wegen wesentlich anderer klimatischer Bedingungen, sondern vor allem wegen eines fortwährenden Bemühens des Menschen, diesen Landstrich nicht der Verödung zu überlassen, nicht zur Wüste werden zu lassen. Von diesem Bemühen zeugen große Terassensysteme, die dazu dienten, die Wassermassen der kurzen, heftigen Regenfälle zu leiten und aufzuspeichern, um das Land über längere Zeit ohne Regen bewässern zu können.

Nirgendwo trügt der Augenschein so sehr wie hier. Nirgendwo ist das Verborgene, das Unsichtbare von so entscheidender Kraft. Der scheinbar öde Boden erweist sich als Behälter ungeahnter Überraschungen.

Die Wüste hat uns etwas zu sagen, macht Noll uns klar. Und dass dies nicht erst heute so ist, belegt er mit zahlreichen Beispielen aus der Dichtung verschiedenster Epochen. Natürlich zitiert er die Torah und die Psalmen, aber auch altägyptische Papyri, Herodot, Lucanus, Sinuhe, Milton, Blake, Goethe, Schiller und Herder, Wilhelm Hauff, Honoré de Balzac und – den jüngsten Poeten der Wüste: Saint-Exupéry.

Wer nun (hoffentlich) Feuer gefangen hat für das Thema, sollte die »Sinn und Form« kaufen und sich nicht mit dem Online-Beitrag begnügen. Für die Veröffentlichung in der ehrwürdigen Akademie-Zeitschrift wurde der Artikel – wie ich feststelle – an einigen Stellen überarbeitet.

Ein Behälter ungeahnter Überraschungen ist übrigens auch Chaim Nolls Werk. Chaim Noll ist der Sohn des in der früheren DDR jedem Schüler bekannten Romanciers Dieter Noll (1927-2008). Er wird das vielleicht nicht gern (erneut) lesen. Zum einen war Dieter Noll – vor allem mit seinem zweibändigen Entwicklungsroman »Die Abenteuer des Werner Holt«, der zur Pflichtschullektüre gehörte – in der DDR einer der »staatstragenden« Autoren. Chaim Noll hingegen lebt, schreibt und unterrichtet als religiöser Jehudi in Israel. Zum anderen hat er sich (possessiv wie qualitativ) längst »eigene Sporen« verdient und ist als Romancier und Essayist der produktivere und in diverser Hinsicht interessantere Autor. Davon zeugt sein Romanwerk. (Zuletzt erschienen ist im Verbrecher-Verlag unter dem Titel »Der Kitharaspieler« ein gewaltiges Opus des historischen Realismus.) Davon zeugen aber auch seine Essays, die verstreut immer wieder in verschiedenen deutschen Zeitschriften erscheinen, leider aber – soweit ich weiß – bislang noch nicht in einem Sammelband erhältlich sind.

Nolls Essays verdanke ich nicht nur reichlich Inspiration, sondern auch einen Sack voll wichtiger Erkenntnisse. Er ist ein Recherche-Berserker, und mit seinen reich belegten Ausführungen ist es ihm schon mehrfach gelungen, langjährig sorgsam gehegte – um nicht zu sagen: in Stein gehauene – und dennoch ganz offenbar irrige Ansichten meinerseits zu erschüttern. Unvergesslich werden mir – um nur ein Beispiel zu nennen – seine Essays über Synkretismus und »Revisionismus« im Islam vor allem im Spannungsfeld der Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Tradition bleiben. Es lohnt also unbedingt, auf Chaim Nolls Website in den Essays zu stöbern.

2 Reaktionen zu “Die Metapher Wüste”

  1. Benjamin Stein

    Eben erreicht mich eine Mail von Chaim Noll mit einer Korrektur, die ich zitieren möchte:

    Der Text »Jenseits der Katastrophen« ist nicht identisch mit dem Text in »Sinn und Form«, sondern eine Kurzfassung […] »Jenseits…« fängt zwar genauso an wie der Lang-Essay, geht dann aber einen anderen Weg. Es ist die Übersetzung einer Vorlesung, die ich 2005 an der Uni Jerusalem gehalten und dann erst ins Deutsche übersetzt habe. Die Langfassung, die schließlich in »Sinn und Form« erschien, geht mehr in Richtung Literatur und Literaturgeschichte, nicht sosehr Wüstenforschung etc., hier floss vor allem Material aus einer seit 2000 an der Uni Beer Sheva gehaltenen Vorlesungsreihe ein: »The Desert as a Topic of Literature from Biblical to Modern Times«. Es sind also im Grunde verschiedene Essays.

  2. Gastbeitrag von Chaim Noll « Turmsegler

    […] Aus dem Beitrag über Chaim Nolls Essay in »Sinn und Form« hat sich per E-Mail noch eine weitere Diskussion mit dem Autor entsponnen. Im Ergebnis freue ich […]

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