Menschen getroffen

23. Dezember 2009

Gottfried Benn - Arzt und Schriftsteller, Quelle: Bundesarchiv
Gottfried Benn – Arzt und Schriftsteller • Quelle: Bundesarchiv

Ich habe Menschen getroffen, die
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
»Fräulein Christian« antworteten und dann:
»wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie »Popiol« oder »Babendererde« –
»wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchentisch lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.

Gottfried Benn (1886-1956)

••• An dieses Gedicht von Gottfried Benn erinnerte Shafik Naz im Dezember in seinem Lyrikkalender. Und Undine Materni sandte es mir per Mail mit einem wunderschönen Jahresendgruß, den ich gern – wie schon letztes Jahr – an die Turmsegler weiterleite. So wünsche ich Euch also allen mit Undines Worten »einen magischen Moment jenseits der raschelnden Geschenkpapiere und vollen Teller …«

Eine Reaktion zu “Menschen getroffen”

  1. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde – Gottesdienst über Genesis 1 | Projekt Kirche

    […] Gedicht von Gottfried Benn (1886-1956) Ich habe Menschen getroffen, die  wenn man sie nach ihrem Namen fragte,  schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten, auch noch eine Benennung zu haben – »Fräulein Christian« antworteten und dann: »wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung erleichtern, kein schwieriger Name wie »Popiol« oder »Babendererde« – »wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht! Ich habe Menschen getroffen, die  mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren, am Küchentisch lernten, hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen – und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa die reine Stirn der Engel trugen. Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt,  weiß es auch heute nicht und muss nun gehen. (Quelle: Turmsegler) […]

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