Ein Fall fürs Archiv

15. Mai 2009

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat den Auftrag, die Literatur und das literarische Leben der Gegenwart zu dokumentieren und oeffentlich zugaenglich zu machen. Aus diesem Grund verzeichnet die Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs im Rahmen der Virtuellen Fachibliothek Germanistik literarische Zeitschriften im Netz ebenso wie literarische Weblogs und Netzliteratur. Es wird angestrebt, diese auf einem Archivserver des Suedwestdeutschen Bibliotheksverbundes für die Zukunft zu sichern.

••• Obiges erhielt ich heute per Mail. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach möchte den Turmsegler archivieren. Diese Anfrage kommt zu einem eigenwilligen Zeitpunkt. Gerade letzte Woche habe ich mit der Herzdame darüber gesprochen, den Turmsegler zu schließen. Das ist keine Frage etwa von Verdruss. (Obgleich einem die Aktivitäten diverser verhaltensgestörter Kommentar- und E-Mail-Stalker allerhand Verdruss bereiten können…) Ich hatte eher das Gefühl, dieses Weblog habe »seinen Zweck erfüllt«, die ursprüngliche Richtung verloren und sollte also geschlossen werden.

Geplant war der Turmsegler einmal als »admiration blog«. Ich wollte mich an frühere Lektüren erinnern und wieder beginnen zu lesen, und das nicht nur, um meine eigene Sprache wieder zu finden. Die Erinnerungen an zurückliegende Leseerlebnisse wollte ich mit Zitaten und Kommentaren dokumentieren, ebenso die Neuentdeckungen, auf die ich hoffte und die dann ja auch zu machen waren. Eigene Texte hier zu veröffentlichen, war nicht vorgesehen. Es wäre mir eitel erschienen, sie in die direkte Nachbarschaft der geschätzten, geliebten Texte berühmter Autoren zu stellen; und abgesehen davon war von einer eigenen (neuen) literarischen Produktion auch nicht auszugehen, als ich den ersten Turmsegler-Beitrag schrieb.

Das Projekt hat sich schnell gewandelt. Nach einigen Monaten mit täglichen Beiträgen über andere Autoren brachte ich doch ein erstes (altes) Gedicht. und schließlich als Podcast und in RSS-Feeds in Fortsetzungen »Ein anderes Blau« (Prosa für 7 Stimmen), ein Text, den ich nach wie vor liebe, für den sich über Jahre kein Verlag hat finden lassen und der schließlich nach einem weiteren Jahr erst in der »edition neue moderne« zum Buch wurde. Da steckte ich schon mitten in der Arbeit an der »Leinwand«.

Ich wollte wieder lesen. Ich wollte wieder schreiben. Ich lese wieder. Ich schreibe wieder. Ich verlege sogar – im Rahmen meiner überschaubaren Möglichkeiten – Titel anderer Autoren, die ich durch den Turmsegler kennengelernt habe und deren Werke mir am Herzen liegen. Mit der »Leinwand« wird es nun im Frühjahr 2010 (nach 15 Jahren Unterbrechung) auch einen Wiederauftritt auf der »Bühne des Literaturbetriebs« geben, wobei gänzlich ungewiss ist, was für Reaktionen und Erfahrungen dies mit sich bringen wird.

Der Turmsegler hat unterdessen sein einst klares Profil verloren. Die Entwicklung der Idee und die Arbeit an »Pans Wiederkehr« möchte ich nicht in der Web-Öffentlichkeit dokumentieren. Bei diesem Text dürfte es viel schwieriger sein als bei der »Leinwand«, mit dem Plot hinterm Berg zu halten, also nicht zu viel preiszugeben vom entstehenden Buch. Ich möchte daran in Ruhe, unbeobachtet und – ja – auch unbehelligt schreiben können.

Ich lese aber sehr langsam; und nicht jedes Buch, das ich heute lese, ist eine Entdeckung, über die man berichten müsste. Allein aus dem Fundus neuer Leseerlebnisse wird sich der Turmsegler künftig also auch nicht speisen lassen. Bleibt die schleichende Entwicklung zu einem Online-Tagebuch, die ja schon spürbar ist, vor der es mich aber graust. Mein Leben ist keine öffentliche Angelegenheit, und ich will sie auch nicht dazu machen. Ich habe nie Tagebuch geschrieben und will damit heute nicht beginnen, nicht für mich, für ein öffentliches Publikum schon gar nicht.

Also wäre es konsequent, dieses Weblog zu schließen. Und während ich darüber nachdenke, erreicht mich nun diese Mail des Deutschen Literaturarchivs. Gegen eine solche Archivierung habe ich nichts einzuwenden. Vielleicht überbringt diese Mail ja auch folgende Botschaft: Der Turmsegler ist nun ein Fall fürs Archiv.

Ich schwanke noch.

10 Reaktionen zu “Ein Fall fürs Archiv”

  1. Lebowski

    Ich denke nicht, dass der „TURMSEGLER“ entbehrlich ist oder gar im Archiv enden sollte … eben weil die manigfaltige & kulturelle Meinungsvielfalt hierzulande dadurch einen unbewussten und erheblichen Schaden nehmen würde; wer Geschichte zwar nicht studiert, aber immerhin aufmerksam verfolgt hat, dem leuchtet sehr schnell ein, dass jeweils nur die Beachtung finden, die ihre Fahnen hoch halten – anderseits laufen sie Gefahr übersehen zu werden.

    Das Gleiche passiert übrigens gerade mitten unter uns mit den Gewerkschaften, die einst so stark und mittlerweile aufgrund eines enormen Mitgliederschwundes von den Arbeitgeberverbänden, samt den Zeitarbeitsfirmen, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, unterlaufen werden! – Und somit werden in Verbindung mit einer zusätzlich schwächelnden Wirtschaft plötzlich Arbeitnehmer fast unbemerkt zu Bittstellern und Arbeitgeber, die zusätzlich immer noch auf eine staatliche Unterstützung hoffen können, gestärkt. Doch im Grunde genommen ist dieser Vorgang, der ja kein Neuer ist, sondern sich in der Geschichte mehrfach wiederholt hat, ein Prozess der Unterwanderung von Arbeitnehmerrechten.

    Religion ist letztenendes nichts anderes als Politik, nämlich eine Umverteilung der Machtverhältnisse. Deshalb halte ich den Zentralrat der Juden in Deutschland auch für enorm wichtig und unverzichtbar, dazu zähle ich im übertragenden Sinne auch den TURMSEGLER, sowie den hervorragend künstlerisch gestalteten Blog seiner lieben Frau Kerstin, „Küss die Hand“!

    Ich weiß selbstverständlich, dass ich mich hier einige Male unrespektabel geäußert habe (Doch dies hatte andere Gründe!), und du mich deshalb auch vorrübergehend für die Kommentarfunktion gesperrst hast, doch ich versichere, dass dieser Lapsus nur ein Ausrutscher war, und dass ich vom Grundgedanken her ein Menschenrechtler bin, ohne für und aber, allein weil ich die Deutsche Geschichte aufmerksam studiert und u.a. das Tagebuch der Anne Frank gelesen habe. Letzteres ist im heutigen Schulalltag übrigens längst nicht mehr gewöhnlich; ich gebe sogar zu, dass ich es persönlich erst mit etwa 19 Jahren gelesen habe, und auch nur deshalb, weil ich es mir selbst im Buchladen bestellt habe!

    Dies war übrigens damals zu meiner Wehrdienstzeit, als ich in der Kaserne heimlich H.Böll las, der mir die die Augen zu öffnen verhalf. Der junge Heinrich Böll war bekanntlich und historisch belegt gegen Ende des 2.Weltkrieges Soldat an der Westfront in Frankreich, wo er vorwiegend als Deutsch-französischer Übersetzer diente, bis er nach dem Krieg zum überzeugten Pazifisten wurde. Später anfang der Achziger Jahre war er sogar mit an der Spitze der Anti-Kriegs Demonstration gegen die geplante Pershing-Raketen Stationierung in Europa. Doch H.Böll war auch ein vehemter Kritiker der Katholischen Kiche, obwohl er Zeit seinen Lebens Katholik blieb, was viele garnicht wissen, oder im Halbwissen am liebsten ausblenden. Viele Menschen aus meinem Bekanntheitkreis verstehen z.b. überhaupt nicht, warum H.Böll für mich eine solche Identifikationsfigur darstellt, weil sie zwar einige seiner Kurzromane gelesen haben, aber nicht seine Schriften & Essays kennen, welche eigentlich das Hauptwerk dieses recht eigentümlichen Schriftstellers sind.

    Der wichtigste Unterschied zwischen Günther Grass und Heinrich Böll (Beide immerhin Literaturnobelpreisträger!) ist übrigens, falls man sie miteinander vergleichen mag, der, dass Günther Grass im Grunde genommen ein heimatloser deutscher Schriftsteller nach dem 2.Weltkrieg wurde, H.Böll dazu im Gegenteil fest im Rheinland verwurwurzelt gewesen ist, und auch deshalb genau den Nerv der Menschen & Leser traf. Das eigenartige ist ja, was Grass eigentlich bis ins hohe Alter verfolgte, dass man ihn immer für mehr oder weniger unglaubwürdig hielt, weil er eben aus Danzig stammte, einer ehemaligen deutschen Stadt in Polen vor dem 2.Weltkrieg.

    Doch inzwischen dürfte sich auch Grass`s literarischer Ruf hierzulande so sehr gefestigt haben, dass er endlich nach all den vielen Jahren der heftigen Kritik einen Ehrenplatz neben Heinrich Böll einnehmen darf.

    Ich war ohnehin immer der Meinung, dass man auf einen verdienten achzigjährigen Schriftsteller nicht mehr allzu sehr Kritikmäßig einschlagen sollte, vielmehr sollte man dies auf die neuen Jungen Schriftsteller anwenden, denn manchnen von denen wird es von der Verlagseite her viel zu einfach gestaltet, wobei andere viel talentiertere Schriftsteller bereits im Anfangsstadium straucheln, nur weil sie angeblich den falschen Backround aufweisen. (Oder man ist von vornherein berühmt, dann verkauft sich sogar Scheiße mit Sahnehäuptschen obendrauf!)

    Bitte entschuldigen sie, dass ich ein wenig vom eigentlichen Thema abgegleitet bin, doch wie sie sicherlich bemerkten, haben die oben genannten Schriftsteller wie Grass und Böll eben sehr viel mit Nachkriegsdeutschland zu tun, und ohne sie kann man sich ein solches in der Rückblende auch kaum noch vorstellen, so präsent sind sie eben immer noch. Doch trotz des Ruhmes bleibt diesen Schriftstellern eben auch für immer das Etikett eines sogenannten „Nachkriegsliteraten“ haften.

    Und schwupp die wupp, so komme ich wieder zu meinem eigentlichen Anliegen zurück, denn Sie sollen Präsenz zeigen, und die Fahnen hoch halten, damit sich Geschichte hierzulande nicht wiederholen kann. Nicht etwa, weil die Gefahr bestünde, sondern weil sie latent vorhanden ist. Und zwar immer, selbst in angeblich sicheren Zeiten einer Demokratie. Wie schnell eine Demokratie kippen kann, dass lehrt uns wiederrum die Geschichte.

  2. andreas louis

    … ich finde, du solltest deine denkbewegung fortsetzen! beste grüße a.

  3. Markus

    ich kann dir gut nachfühlen, benjamin.
    pause machen.

    (auch wenn die vielen leser die regelmässigen beiträge des turmseglers vermissen werden. ich habe besonders deine religiösen bzw spirituellen reflektionen genossen. obwohl diese ja – wie ich oben lese – ursprünglich gar nicht geplant waren.)

  4. ksklein

    Markus hat Recht. Pause und dann weiter machen. Es muß ja auch nicht täglich sein wie am Anfang. ;)

    Wäre schade, wenn man weniger von Dir hört/liest/erfährt. Ich mag besonders Deine persönlichen Anmerkungen/Gedanken zu den geposteten Texten.

  5. eliterator

    ich bin erst relativ spät zum turmsegler-leser geworden und manches lese ich einfach nur so..aber vieles hat mich echt beeindruckt und zum nachdenken angeregt..also ich würd auch sagen, kurzes päuschen und dann weiter..oder ghostwriter einsetzen..LG Jörn

  6. mikel

    Bloggen ist Bauchsache. Wenn die Lust vergeht, dann sollte man eben aufhören. Völlig richtig. Aber das Blog bestehen lassen! Es kommen vielleicht andere Tage, wenn Worte ans Licht drängen, die sonst nirgends hin passen.

    Willkommen im Archiv, ich bin gespannt, wie das laufen wird in Marbach da…

  7. mikel

    Nachtrag: Suhrkamp-Archiv nach Marbach? ;-)

  8. perkampus

    aufhören solltest du auf gar keinen fall. ich habe es schwer bereut, die alte veranda in den orkus gejagt zu haben. vor allem machst du gerade jetzt erfahrungen, die nicht unwesentlich für den ein oder anderen eintrag gut sein werden.

    was das literaturarchiv betrifft: ich habe keine ahnung, für was das wirklich tauglich sein könnte. ich war ja da auch mal gelistet, aber über das literaturarchiv findet sich kein besucher. der einzige grund könnte also sein, dass, wenn du wirklich auf den knopf drückst, alles doch noch irgendwie da ist.

  9. Benjamin Stein

    Um das klarzustellen: Ich hatte nicht vor, den Turmsegler offline zu setzen. Allein als »Nachschlagewerk« für mich selbst ist und bleibt das Blog nützlich. Und die Denkbewegung, wie ALS anmerkt, wird ohnehin fortgesetzt. Das ist gar nicht die Frage.

    @perkampus: Dass Du die »Veranda« in den Shredder befördert hast (und nicht zum ersten Mal!), habe ich auch nicht verstanden. Ich vermutete den Wunsch nach grundsätzlichem Neubeginn statt evolutionärer Veränderung. Oft und gern (und oft später bedauernd) bin ich so mit alten Manuskripten umgesprungen. Aber beim Blog bin ich versöhnlicher und beobachte eher mit Interesse auch die schleichende Wandlung.

    Zum Literaturarchiv, über dessen Wirken und technische Möglichkeiten ich mich ein wenig informiert habe, werde ich noch einen Nachtrag bringen – gelegentlich.

  10. Turmsegler bei DILIMAG « Turmsegler

    […] Turmsegler wird seit letztem Mai vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für ähnliche Zwecke archiviert. Für das DLA […]

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