Wie sieht der Tod aus?

21. Januar 2009

Ich fragte Vater: Wie sieht der Tod aus? Hat er eine körperliche Gestalt? Mutter versetzte mir einen leichten Klaps auf die Wange, als wollte sie etwas Störendes vertreiben und sagte zu Vater auf Jiddisch: »Schejale mit seine klatz Kasches!« (Schejale mit seinen dummen Fragen!) Aber später am Abend gab sie, wenn ich mich recht entsinne, meinen Bitten nach und flüsterte mir zu: »Der Todesengel hat einen Schlangenkopf, Hühnerbeine und den Körper eines Fisches. Er erscheint nur demjenigen, dessen Ende gekommen ist.« […]

Benjamina hatte eine traurige Nachricht: Der Dichter Bareket sei an Magenkrebs gestorben. Kaum ein Jahr zuvor war ein anderer Dichter, Jakob Harari, an Krebs gestorben. Wie fielen doch die Dichter! Als er Bareket zum letzten Mal gesehen hatte, wusste der schon von seiner Krankheit, auch von ihrer Unheilbarkeit. »Sonnenfeld«, hatte er ihm geheimnisvoll ins Ohr geflüstert, »ich spüre schon den Atem des Todes im Nacken. Du sollst wissen, dass es mir gleich ist, wann ich sterbe, aber dass ich mit mir allein sein möchte, wenn dieser satanische Schurke, der Todesengel, dann vor mir steht.« Seine Worte erinnerten ihn an Montaigne, der sagte, der Tod sei keine Aufgabe, derer der Mensch sich in Gesellschaft entledige. Der Tod wolle allein durchgestanden sein. Der Philosoph aus der Gascogne wünschte sich, sein Leben nicht im Bett auszuhauchen, sondern hoch im Sattel, fern von Haus und Familie. Barekets Wunsch ging in Erfüllung: Er starb allein, mitten beim Verfassen eines Gedichts. An jenem Tag fand seine Tochter ihn in seinem breiten, gepolsterten Lehnstuhl am Tisch sitzend, den Kopf zurückgelehnt mit offenem Mund. Vor ihm lag ein Blatt Papier mit der ersten Strophe.

Asher Reich
aus: »Erinnerungen eines Vergesslichen«
© Bleicher Verlag (2000)
Übertragung: Ruth Achlama

••• Heute früh in der Synagoge eine Diskussion um halachische Fragen im Zusammenhang mit im Koma liegenden Patienten. Ein Freund meinte, er frage sich immer, warum der Körper einen solchen Zustand aufrechterhält, selbst wenn keinerlei Chance mehr besteht, wieder ins Leben zurückzukehren. Antwortet ein anderer: Es liegt an der ängstlichen Seele, die sich selbst von einem unheilbar geschwächten, verletzten Körper nicht zu trennen wagt. Sie will einfach noch nicht gehen. Mitunter über Jahre.

Wie wir heute früh gelernt haben, betrachtet es die Halacha als Mord, in einem solchen Fall die Maschinen abzuschalten. (Was mir neu war; ich muss mal nach vertiefenden Quellen zum Thema suchen…)

Angst also? Und was, wenn es lediglich am Blatt Papier fehlte? Wenn die Seele sich nicht lösen mag, weil ein paar Verse noch nicht den Weg in die diesseitige Welt gefunden haben?

Also schiebt das Gedichteschreiben nicht auf. Und treibt euren Seelen die Ängste aus, solange noch Zeit ist.

7 Reaktionen zu “Wie sieht der Tod aus?”

  1. chronochrom » Wie der Tod aussieht?

    […] Stein hat gestern einen höchst interessanten Artikel […]

  2. dirk

    „Keinerlei Chance“ gibt es nicht. Die Körper hoffen, wenn das Ich, beschwatzt von der Vernunft, verzagt. Die Körper hoffen noch, wenn die Seele schläft. Die Hoffnung ist nicht gemacht, sie wirkt in uns. Aus dem Koma kann ein Kind kommen. / Wie sieht der Tod aus? Ich stelle mir vor: wie wir, ohne uns. Wir sagen ihn nie; wir halten, wenn er eintritt, den Atem an. Oder ’sie‘.

    Und weil ich nicht weiß, wann ich nicht bin, sind die Gedichte jederzeit fertig, und ich schau da, wo ich bin, was zu tun ist. Jetzt z.B. ist es Zeit, der Nachbarin ihr Päckchen zu bringen. Im Augenblick werden die Gespenster.

  3. Alexander Nicolai

    Herr Stein,

    da versuche ich einmal, Sie auf mein Blog zu ziehen, halb in der Erwartung, dass Sie dafür ohnehin keine Zeit finden, halb in dem Glauben, dass Sie es doch täten, und dann ziehen Sie die Diskussion gerade wieder zurück auf Ihren Blog.
    Chapeau

    Nun, eine bildliche Vorstellung des Todes erinnert mich an selbiges bei Gott, und da bleibt sicher die Frage offen, warum wir eine Neigung haben, uns zu viel in menschlicher Gestalt vorzustellen. Und mehr noch, inwieweit uns diese Neigung in einer konkreten Wahrnehmung behindert.

    Nicht weniger interessant finde ich aber auch Dirk Schröders Frage, ob es nicht der Körper ist, der hofft? und die Seele unterdessen schläft.

    Das Konzept von dem ich sprach, lässt da grundsätzlich mehrere Interpretationen zu, in der Ausdifferenzierung allerdings stellt sich die Frage, ob es nicht die organisch Lebenden sind, die die Seele des Sterbenden nicht ziehen lassen wollen?

    ohne ihre kulturelle und persönliche Leistung und Leistungsbereitschaft wäre es einem Koma-Patienten kaum möglich, anders zu handeln, als die Seele ziehen zu lassen. Wer stellt den die Maschinen auf und aus welcher Motivation?

    Wer investiert in die nicht gerade günstige Erhaltung eines nicht mehr lebensfähigen Organismus?

    Von alters her wurde Leben als Odem verstanden, als Atmen.

    und das wäre jetzt ein Frage, bei der ich mich über eine Antwort ihrerseits wirklich freuen würde: stellt der Diskurs der Halacha auch die Frage, ob und inwieweit es falsch sein könnte, die Seele länger an den Körper zu binden, als der Körper selbst es zulassen würde?

  4. Erich K.

    @Alexander Nicolai

    Ihre offenbar sehr sorgsam ausgetüfftelte & devote Schein-Intellektualität ist wirklich ein wahres Famosum. – Erst vesuchen sie sich an P.-s und nun an Herrn Stein`s Fersen zu hängen (Mit der offensichtlich gleichen verblendeten Vorstellung, wie bekomme ich in relativ kurzer Zeit möglichst viele Traffics auf meinen neuen Blog!) Echt billig!

    Ihre Argumente sind übrigens außerst löchrig, bis völlig unrelevant. Sie stiften mehr geistige Verwirrung, als dass sie etwas wirklich informativ Wertvolles beitragen würden.

  5. Benjamin Stein

    @Alexander Nicolai

    Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Schreiben Sie doch einen interessanten Gastbeitrag für den Turmsegler über eine prägende Lektüreerfahrung. Das sichert Ihnen einen qualifizierten Backlink zu Ihrem neuen Weblog.

  6. Alexander Nicolai

    @ Benjamin Stein

    eine Einladung, die ich gerne annehme.
    einen entsprechenden Beitrag finden Sie diese Woche in Ihrem Postfach.

    Nichts desto trotz würde mich Ihre Antwort auf meine Frage sehr interessieren, allerdings eilt es damit auch nicht. Mit manchen Fragen ist es wie mit manchen literarischen Werken: sie bleiben zeitlos aktuell.

  7. Benjamin Stein

    Wer stellt den die Maschinen auf und aus welcher Motivation?

    Wenn ich Ihre Fragen richtig verstehe und die damaligen halachischen Ausführungen korrekt erinnere, sieht es so aus: Es wäre verboten, die Maschinen abzustellen, wenn dadurch der Tod unausweichlich wird. Nicht verboten hingegen wäre es, die Maschinen gar nicht erst anzuschließen. Das hat aber nichts mit der Seele zu tun, sondern einfach mit der Überlegung, dass beim Abschalten einer lebenserhaltenden Maschine eben diese Tat unvermeidlich zum Tod führt (was als Mord betrachtet wird). Schließt man die Maschine nicht an, lässt man dem natürlichen Verlauf seinen Gang, ohne einzugreifen, was (da passiv) kein Mord sein kann.

    Mir feheln allerdings Informationen, unter welchen Rahmenbedingungen das Nicht-Anschließen im Sinne einer unterlassenen Hilfeleistung, die das Leben hätte retten können, auch problematisch ist. Das füllt sicher dicke Bücher. Dem müsste ich mal nachgehen.

    Zur Bildlichkeit des Todes: Mich hat das aus künstlerischen Motiven schon sehr lange interessiert. Im »Alphabet des Juda Liva« tritt der Tod körperlich auf in Gestalt des (weiblichen) Todesengels Azrael. Ich persönlich glaube nicht, dass der Tod eine Gestalt hat. Ihm in der Dichtung eine Gestalt zu geben, eröffnet jedoch viele interessante Möglichkeiten.

    Zum obigen Zitat:

    »Der Todesengel hat einen Schlangenkopf, Hühnerbeine und den Körper eines Fisches. Er erscheint nur demjenigen, dessen Ende gekommen ist.«

    Das könnte reiner Aberglaube sein, war es womöglich auch. Die meisten dieser als Aberglauben transportierten Geschichten haben jedoch ihre Wurzeln in der Mystik (vom Unverständigen zum Aberglauben trivialisiert).

    Beschreibt der Mystiker – der immer auch Poet ist – den Tod so, meint er nicht, dass er tatsächlich körperlich vorzustellen ist, sondern die Beschreibung ist Allegorie. Die Schlange als Sherez ist eine Quelle vom Tumah (rituelle Unreinheit, ein Konzept, dessen Auslegungen Folianten füllt). Nähe zum Tod (durch Berührung oder Aufenthalt unterm gleichen Dach) überträgt Tumah. Was mag es also bedeuten, dass der Kopf des Todesengels ein Schlangenkopf ist? Der Fisch lebt im Wasser (dem Unbewussten). Was mag es bedeuten, dass der Körper des Todesengels ein Fischleib ist? … Über Hühner bin ich nicht im Bilde.

    Ich will nicht wissen, wie der Tod aussieht, ja ob er überhaupt eine Gestalt hat. Aber in der poetischen Darstellung durch die Mystiker wird Deutung transportiert. Und unter diesem Gesichtspunkt ist für mich die Frage »Wie sieht der Tod aus?« sehr interessant.

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