Shiluach ha-Ken

13. August 2008

Elisha ben Avuya kafar

Was hat er sich nur gedacht? Die Mitzvah ist, die Mutter fortzuschicken und die Küken zu nehmen. Vom Baum zu fallen, gehört nicht dazu.

Eine verbindliche Erklärung für Elishas Abfall vom gesetzestreuen Leben hatten die Schriften nicht zu bieten. Eine Geschichte immerhin versuchte, die Ursache in einem paradoxen Vorfall auszumachen, dessen Zeuge Elisha ben Avuya geworden sein soll.

Bei kaum einer Mitzwah erwähnt die Torah explizit einen für ihre Erfüllung zu erwartenden Lohn. Für zwei Mitzvot allerdings verspricht sie unumwunden als Lohn ein langes Leben: für die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, und das Gebot von Shiluach ha-Ken.

Ebenso, wie es verboten ist, ein Jungtier am gleichen Tag zu schächten wie seine Mutter, verbietet die Torah, Jungvögel aus einem Nest zu nehmen, wenn die Mutter es sehen kann. Man muss sie verjagen, damit sie nicht mit ansehen muss, wie ihr Nachwuchs geraubt wird.

Jene Geschichte nun, die von Acher berichtet wird, erzählt von einem Jungen, der mit seinem Vater spazieren geht. Der Vater entdeckt auf einem Baum ein Nest und bittet seinen Sohn, ihm die Jungvögel zu fangen, um daraus eine schmackhafte Mahlzeit zu bereiten. Der Junge zögert nicht, seinem Vater den Wunsch zu erfüllen. Er klettert auf den Baum und versucht beherzt, die Mutter zu verjagen, die ihre Jungen zu verteidigen bereit ist. Als sie schließlich aufgibt und davonfliegt und der Junge die kleinen Vögel aus dem Nest nehmen will, rutscht er ab, stürzt vom Baum und stirbt.

Elisha ben Avuyah, so will es der Bericht, hätte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet. Dass der Junge in genau dem Augenblick starb, als er beide Mitzvot erfüllte, für deren Ausübung die Torah ausdrücklich langes Leben verspricht, hätte aus Elisha ben Avuyah jenen Anderen werden lassen, dessen Name nicht mehr genannt sein soll, weil er seinen Glauben an den gerechten Gott verloren hatte.

Eli hielt gar nichts von dieser Erklärung. Wie, sagte er, könnte jemand, der dem Ewigen so nahe gekommen war, wie nur irgend möglich, angesichts eines simplen Paradoxons seinen Glauben verlieren? Eli studierte nicht nur, wie man es von uns erwartete, die Gemara. Er wühlte sich auch, zum Teil unter großen Anstrengungen, durch die Schriften Lurias, das »Buch der Schöpfung« und den »Sohar«, mystische Bücher, die uns eigentlich – unverheiratet, kinderlos und so jung, wie wir noch waren – ebenso verboten waren wie Romane.

Kaum etwas brachte Eli mehr in Rage als der Begriff des »lieben Gottes«. Wenn Gott allumfassend sein sollte und obendrein der Mensch in seinem Ebenbild erschaffen, dann musste der Ewige auch alle nur denkbaren Attribute des Menschlichen in sich vereinen. Wer vom »lieben Gott« sprach, postulierte Eli, verschloss demnach fest die Augen vor der wahren Erkenntnis des Ewigen, der ebenso grausam, eifersüchtig, zornig und ungerecht sein konnte, also alles in allem unberechenbar.

Jemand wie Elisha ben Avuya hätte dies nicht anders gesehen. Ganz sicher nicht hätte er wegen einer solchen Erfahrung seinen Glauben an den Ewigen und seine Lehre verloren. Wäre es so gewesen, behauptete Eli, hätte er diese Lehre nicht weiter verbreitet, indem er weiterhin Schüler annahm und unterrichtete. Viel wahrscheinlicher erschien es Eli, dass Elisha den Vater getröstet hätte.

Sein Sohn, hätte er womöglich dem Vater gesagt, hatte, da er beide Mitzvot, deren Erfüllung langes Leben erwarten ließen, in ein und demselben Augenblick ausübte, unmittelbar den größtmöglichen Lohn erhalten. Der Ewige hatte ihm einen ewigen Anteil an der kommenden Welt gewährt, den er durch keine Übertretung und keine Unterlassung im diesseitigen Leben mehr verwirken konnte, da er in genau jenem Augenblick gestorben war, in dem sich sein Leben erfüllt hatte.

Dass also der Talmud jene Geschichte als mögliche Erklärung für Elisha ben Avuyas Abfall vom Glauben präsentierte, hielt Eli für eine Finte. Da er bereit war, Gott jegliche Eigenschaft zuzuschreiben, traute er dem Ewigen auch alles zu, so unwahrscheinlich, ja sogar absurd es erscheinen mochte.

Nun hatte Eli durchaus nicht vor, das Gesetz hinter sich zu lassen, in dessen Rahmen wir erzogen worden waren. Ich wurde nur einmal und das auch nur indirekt Zeuge einer Übertretung. Aber er hatte beschlossen, sich nie mit den nahe liegenden Antworten zufrieden zu geben. Er würde, hatte er für sich beschlossen, immer auf seinem Recht bestehen, zu zweifeln und zu hinterfragen. Und er würde immer eher einer Auslegung den Vorrang geben, die über das Offensichtliche hinausging und vielleicht gerade dadurch die Poesie des göttlichen Handelns in der Welt am wahrhaftigsten offenbarte – eine Poesie, die eben auch eine Poesie des Grauens sein konnte.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

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