Über Musen (Stimme der Sprache)

8. Mai 2008

Im allgemeinen stand im Kalender eines Dichters der Antike als einzige Weiblichkeit neben der Geliebten nur seine Muse. In der modernen Vorstellung überschneiden sich die beiden; in der Antike taten sie das nicht, weil die Muse eigentlich unkörperlich war.

Joseph Brodsky

••• Beunruhigen Sie sich nicht, lieber looka. Dass Sie den Turmsegler „in den Reader nehmen“, ist ja überhaupt eine gute Idee und sehr zu begrüssen. Und lange warten brauchen Sie auf die Fortsetzung dieses Musen-Sequels auch nicht. Violá, hier geht es schon weiter…

Etwas lustlos also habe ich in dem Brodsky-Band geblättert, hier und dort angelesen, auch mehrfach, doch ich wurde nicht recht warm. Dennoch war der Band kein Fehlkauf, denn er enthält ein Nachwort vom Autor selbst. Es trägt den Titel „Altra Ego“ (die feminisierte Form von Alter Ego) und handelt vom modernen Mythos des Dichters als Wüstling und der vermeintlichen Ursache dieser unterstellten moralischen Desintegrität: der Muse.

Wüstlichkeit und Muse – das, so Brodsky, gehört ja gar nicht zusammen, denn die Muse sei unkörperlich und nichts anderes als die Stimme der Sprache.

Aber lassen wir (mit einigen Auslassungen) Brodsky selbst zu Wort kommen:

 

Die Vorstellung vom Dichter als einem unverbesserlichen Don Juan ist relativ neuer Prägung. Wie viele Ansichten, die sich in der öffentlichen Phantasie großer Verbreitung erfreuen, scheint sie ein Abfallprodukt der industriellen Revolution zu sein, die durch ihre Quantensprünge in Menschenakkumulation und elementarer Bildung erst dem Phänomen der öffentlichen Phantasie zur Geburt verholfen hat. […]

Die Haltung der Antike gegenüber einem Dichter war im großen und ganzen überschwänglicher und sensibler. […] Orpheus ist alles andere als ein Don Juan. Über den Tod seiner Gattin Eurydike ist er so verzweifelt, daß seine Klagen die Olympier erweichen und sie ihm gestatten, sie aus der Unterwelt zurückzuholen. Daß bei diesem Ausflug […] nichts herauskommt, beweist nur die Intensität der Gefühle des Dichters für seine Geliebte. […]

Ebenso wie das spätere Schicksal des Orpheus (er wurde von einer Schar wütender Mänaden in Stücke gerissen, als er sich weigerte – weil er in Trauer um Eurydike Keuschheit gelobt hatte -, sich ihren entblößten Reizen zu unterwerfen) verweist diese Intensität auf die monogame Natur der Leidenschaft zumindest dieses Dichters. Zwar maß die Antike anders als die Monotheisten nachfolgender Epochen der Monogamie keinen großen Wert bei, doch man beachte, daß sie auch nicht ins entgegengesetzte Extrem verfiel und Treue als spezielle Tugend ihrem rangältesten Dichter vorbehielt. Im allgemeinen stand im Kalender eines Dichters der Antike als einzige Weiblichkeit neben der Geliebten nur seine Muse.

In der modernen Vorstellung überschneiden sich die beiden; in der Antike taten sie das nicht, weil die Muse eigentlich unkörperlich war. Die Tochter von Zeus und Mnemosyne (der Göttin der Erinnerung) hatte nichts Greifbares an sich; sie offenbarte sich einem Sterblichen, vor allem einem Dichter, einzig durch ihre Stimme: indem sie ihm diese oder jene Zeile diktierte. Mit anderen Worten, sie war die Stimme der Sprache; und worauf ein Dichter im Grunde hört, was ihm wirklich die nächste Zeile diktiert, ist die Sprache. […]

Die Muse ist also keine Alternative zur Geliebten, sondern geht ihr voraus. Tatsächlich spielt die Muse, geb. Sprache, als »ältere Frau« eine entscheidende Rolle in der Gefühlsentwicklung eines Dichters. Sie ist nicht nur für sein emotionales Rüstzeug verantwortlich, sondern häufig auch für die Wahl des Gegenstands seiner Leidenschaft und die Art und Weise, wie er ihm nachjagt. Sie ist es, die ihn fanatisch zielstrebig werden läßt und seine Liebe zum Äquivalent ihres eigenen Monologs macht. Was sich in Gefühlsangelegenheiten als Starrsinn und Verbohrtheit äußert, ist im wesentlichen das Diktat der Muse […] als treibe die Sprache den Dichter, vor allem den romantischen, dorthin, woher sie gekommen ist, wo am Anfang Wort war oder ein erkennbarer Laut […] denn jedes Wort möchte dorthin zurück, woher es gekommen ist, und sei es als ein Echo, das die Mutter des Reims ist.

Joseph Brodsky
aus: „Der sterbliche Dichter“
Über Literatur, Liebschaften und Langeweile
© Carl Hanser Verlag, München 1998

••• Glauben Sie nicht, lieber looka, dass Sie den Turmsegler nun wieder „aus dem Reader nehmen“ könnten. Denn dieses Sequel „Über Musen“ ist noch nicht zu Ende…

9 Reaktionen zu “Über Musen (Stimme der Sprache)”

  1. looka

    Ich finde es ja großartig, wenn man in Blogbeiträgen persönlich angesprochen wird. Da kann ich auch über die dabei durchgeführte Geschlechtsverwandlung hinwegsehen. Vielleicht könnte man aber noch zwei r in den Beitrag packen.

    Momentan habe ich auch gar keinen Grund den turmsegler aus dem Reader wieder rauszunehmen. Stattdessen werde ich, wenn sich Zeit findet, im Archiv stöbern.

    Nun bin ich noch gespannt wie es weitergeht. Die Worte des Brodsky finde ich interessant. Hat sich jetzt schon in mein Gedächtnis gebissen.

  2. Benjamin Stein

    In der Literatur ist alles möglich, auch Geschlechtsumwandlungen. Das kostet mich gerade zwei Tastenanschläge :-)

  3. Lea

    Und was ist mit der Muse ohne den Muser? Ich muss sehr darüber nachdenken, wo ich letzterem begegnet war.

  4. claudia öhlschläger

    Der Zufallsfund, das erinnert natürlich auch an meinen ´Lieblingsautor´ Sebald: die Dinge, zu denen nun auch einmal Bücher zählen, kommen unverhofft auf den Wartenden zu. Und dieser ist ein Bastler (siehe Lévi-Strauss und sein Konzept der Bricolage, auf das Herbst in seinem programmatischen Text über literarische Weblogs Bezug nimmt), hält die Bruchstücke in der Hand, montiert und kombiniert sie.- Was ist übrigens mit Brodsky gesprochen damit gewonnen, wenn man die Muse entkörperlicht? Kann sie dann erst zur Stimme, zur Metapher für die Sprache als eigentlichem (mütterlichem?) Liebesobjekt werden? Ich wünsche mir für morgen auch eine Fortsetzung, damit ich weiter denken kann.
    Claudia

  5. Benjamin Stein

    Was ist übrigens mit Brodsky gesprochen damit gewonnen, wenn man die Muse entkörperlicht?

    Brodsky kann dafür ja nicht verantwortlich gemacht werden. Das ist ja so ein griechisch-mystisches Ding…

    Eine Fortsetzung wird es in Kürze geben, vielleicht sogar morgen – ähem, das wäre ja heute.

  6. claudia öhlschläger

    Nun ja, natürlich Modell der griechischen Mythologie, aber Brodsky beruft sich darauf, und er will sagen, dass die Muse diktiert, dass sie gewissermaßen eine Herrschaft über den Dichter ausübt, Sprache, die zu ihrem Ursprung will als Movens des Dichtens – so jedenfalls verstehe ich es.

    Ist das eine verdeckte oder auch implizite Beschreibung des schriftstellerischen Selbstverständnisses des Turmseglers?

  7. perkampus

    wäre die muse jene, die diktiert, wäre der autor nur der ghostwriter. doch ist die muse der eigentliche antrieb. das darf man nicht theoretisieren, man muß es erleiden. auch ist sie (die muse) nicht von der eigentlichen geliebten zu unterscheiden (das sagt brodsky ja tatsächlich). die moderne muse weiß nicht zwingend, daß sie muse ist – sie BLEIBT auch als obsessus ungebunden, wird sich aber an die geliebte halten, um höchstleistungen im dichter zu lancieren. eher ist sie liebesatem als person, eher ist sie von der imagination beseelt, denn eigentlich lebendig.

  8. Über Musen (Altra Ego) « Turmsegler

    […] nach kurzzeitiger Absenz wieder ins Online-Leben zurückgekehrt und übernimmt heute per Kommentar die Rolle der Muse. So kann ich dieses Brodsky-Musen-Sequel endlich fortsetzen, nachdem auch ich […]

  9. Zum Konzept literarischer Weblogs « Turmsegler

    […] Folgetag, dem 8. Mai 2008 erfahren wir, dass der Beitrag »Über Musen (Vorgeschichte)« als Bestandteil eines Sequels zu […]

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