Mathematiker oder Addierer

12. April 2008

Ein Gastbeitrag von Wladimir Majakowski

••• Noch einmal mache ich sehr entschieden den Vorbehalt: Ich gebe keinerlei Regeln, wie man Dichter werden, wie man Verse schreiben soll. Solche Regeln gibt es überhaupt nicht. Dichter heißt gerade einer, der diese Regeln für die Dichtkunst schafft. Zum hundertsten Male führe ich mein bis zum Überdruss bekanntes Beispiel an.

Ein Mathematiker ist ein Mensch, der mathematische Regeln schafft, ergänzt, entwickelt, der einen neuen Beitrag zur mathematischen Wissenschaft liefert. Der Mann, der als erster die Formel »2+2=4« fand, ist ein großer Mathematiker, selbst dann, wenn er diese Wahrheit aus der Addition von je zwei Zigarettenstummeln gewonnen hat. Alle Nachfolgenden, mögen sie auch unendlich größere Dinge addiert haben, zum Beispiel eine Lokomotive und noch eine Lokomotive – alle diese Leute sind keine Mathematiker. Diese Feststellung setzt keineswegs die Arbeit desjenigen herab, der die Lokomotiven zusammenzählt. Seine Arbeit kann in Tagen einer Transportkrise hundertmal wertvoller sein als ein nackter arithmetischer Lehrsatz.

Man wird mir entgegnen, ich renne offene Türen ein. Das sei doch alles selbstverständlich.

Weit gefehlt.

Achtzig Prozent des gereimten Unsinns werden von unseren Redaktionen nur darum gedruckt, weil die Redakteure entweder keine Vorstellung von der Dichtkunst der Vergangenheit haben oder nicht wissen, wozu Gedichte gut sind. Die Redakteure kennen nur ein »Mir gefällt’s« oder »Mir gefällt’s nicht« und vergessen dabei, dass man den Geschmack bilden kann und muss. Fast alle Redakteure haben sich mir gegenüber beklagt, sie verständen es nicht, Gedichtmanuskripte zurückzuschicken. Sie fänden keine passenden Worte bei solchen Gelegenheiten.

Ein tüchtiger Redakteur müsste dem Dichter erklären: »Ihre Verse sind äußerst korrekt. Sie sind nach der dritten Auflage des Handbuches zur Versfabrikation hergestellt. Alle ihre Reime sind erprobt und längst durch das vollständige Reimlexikon bekannt. Da ich im Augenblick keine guten neuen Gedichte habe, nehme ich gerne die Ihrigen. Ich bezahle sie wie die Arbeit eines guten Kopisten: drei Rubel pro Seite, unter der Bedingung, dass drei Kopien eingereicht werden.«

Er wird danach entweder das Schreiben aufgeben oder sich ans Dichten wie an einen Beruf machen, der viel Arbeit verlangt. Jedenfalls wird er aufhören, sich besser zu dünken als ein Lokalreporter, der für seine drei Rubel pro Notiz wenigstens mit neuen Ereignissen aufwarten kann. Der Lokalreporter rennt immerhin seine Schuhsohlen auf der Suche nach Skandalaffären und Bränden ab, während ein Poet der genannten Art höchstens seine Spucke zum Umblättern der Seiten verausgabt.

Fortsetzung folgt

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