Gabe und Strafe (1)

10. Februar 2008

Ich weiss es nicht. Ich bin mir wirklich unsicher, ob ich diese, meine Fähigkeit eine Gabe nennen soll. Täte ich es, wer, müsste ich fragen, wäre der Gebende gewesen? Dort, woher ich komme, gibt es auf eine solche Frage nur eine Antwort: Ha-Kadosh baruch-hu, der Heilige, gelobt sei er; oder aber Satan, der ewige Versucher, und es hätte einzig an mir gelegen, den Beweis der tatsächlichen Herkunft dieses Geschenks anzutreten. Denn jeder Gabe, so hätte man mir gesagt, wohne das Potential des Guten wie auch des Bösen inne, und es läge letztendlich immer in der Hand des Beschenkten, das Geschenk zu einem Segen oder einem Fluch zu machen.

Aber ich höre nicht mehr auf die Einflüsterer meiner Kindheit. Meine Ehrfurcht vor Ha-Kadosh baruch-hu hat sich ebenso verflüchtigt, wie ich die panische Angst aus mir ausgetrieben habe, den Versuchungen des gefallenen Erzengels zu erliegen und ihm so unrettbar in die feurigen Fänge zu geraten, aus denen es keine Erlösung gibt. Das kann nun freilich aus der Sicht der Einflüsterer bedeuten, dass genau dies geschehen und meine Seele dem Widersacher bereits sicher ist. Aber sollte dies auch so sein, so wäre die Sünde ein Segen, weil in ihr die alles verzehrende Angst ein Ende gefunden hat.

Weil ich also meine Ohren taub gemacht habe für die Einflüsterungen der Angstverwalter, die vorgeblich mit den Stimmern der Gebenden reden, kommt mir das Wort Gabe nicht so leicht über die Lippen.

Andererseits besass ich diese Fähigkeit nicht immer. Sie hat sich nicht angekündigt und über Jahre verfeinert. Sie kam vielmehr plötzlich und gänzlich unerwartet über mich, und zwar in einem Augenblick, in dem ich am wenigsten erwartet hätte, beschenkt zu werden. Ich war fünfzehn, und sie kam über mich in Gestalt eines gewaltigen Bildersturms, einer rasenden Flut aus Tönen, Gerüchen und Gefühlen, die mir bis dahin völlig fremd gewesen waren und die in mich einströmten wie ein rotglühendes Metall, das jede Spur Kindlichkeit aus mir ausbrennen sollte. Ich hatte mit gesenktem Kopf vor meinem Vater gestanden, in Erwartung der Verkündigung einer Strafe, von der ich annehmen musste, dass sie mein Leben gewaltsam und unwiderruflich verändern würde.

Nun war mein Vater alles andere als gewalttätig. Wenn ich gewaltsam sage, so meine ich damit keine körperliche Züchtigung, sondern die Gewalttätigkeit des Herzens, das, aus dem unbedingten Gefühl heraus, das einzig Richtige zu tun, jede widerstreitende Regung in sich selbst erdrückt.

Ich muss, glaube ich, ein wenig ausholen, um die Natur dieses Augenblicks, in dem sich womöglich mein Leben entschieden hat, verständlich zu machen und einen Eindruck zu vermitteln von der Art der Strafe, auf die ich an jenem Tag hatte gefasst sein müssen.

© Benjamin Stein (2008)

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2 Reaktionen zu “Gabe und Strafe (1)”

  1. Peter

    Wie meint ihr das denn jetzt?

    Ist das ein Buch oder ist dass die Realität? Wenn es ein Buch ist strebt die Geschichte nach einer wahren Begebenheit?

  2. Benjamin Stein

    Es handelt sich um einen Auszug aus einem Buch, und nach meiner Überzeugung ist die Fiktion die wahrhaftigste Form von Wirklichkeit.

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