Ein Koffer (2)

3. Februar 2008

••• Vielleicht ist es ja für den einen oder anderen von Interesse, was geschah, nachdem ich die Tür geöffnet hatte…

 

«« Ein Koffer (1)

Im Treppenhaus wartete – wie konnte es anders sein – ein Kurier. Er wirkte etwas genervt. Ein Paket oder Briefe konnte ich nicht entdecken. Aber einen Koffer hatte er dabei und das unvermeidliche Schreibbrett mit der Quittierungsliste, die auf meine Unterschrift wartete, die ich nun wiederum würde verweigern müssen. Ich sagte jedoch erst einmal nichts.

Er käme vom Flughafen, erklärte der Kurier. Die Fluggesellschaft bedauere, dass es so lange gedauert habe. Doch mein Koffer hätte sich nun endlich angefunden. Da sei er. Ich müsste das nur quittieren. Dann könnte er weiter. Er hätte noch eine lange Tour.

Ich atmete auf. Dieses Mal würde sich das Problem ganz einfach lösen lassen. Wenn ich die enormen Sicherheitsmassnahmen am Ben-Gurion-Airport in Tel Aviv bedenke, wo nicht nur jeder eingecheckte Koffer, sondern auch jedes Handgepäckstück mit einem Barcode-Aufkleber versehen wird, scheint es ein Ding der Unmöglichkeit, dass auf einem Flug von dort oder nach dort ein Gepäckstück verloren geht und irgendwo herrenlos darauf wartet, wieder gefunden zu werden.

Ich vermisse keinen Koffer, sagte ich.

Das kann nicht sein, erwiderte der Kurier. Warten Sie, hier steht es: 3. Januar, TUIfly Tel Aviv/München. Sie haben den Verlust angezeigt, als der Koffer eine Stunde nach der allgemeinen Gepäckausgabe noch nicht aufgetaucht war. Sie haben das doch unterschrieben.

Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern. Es müsste immerhin auch nachprüfbar gewesen sein, dass ich nur einen Koffer eingecheckt hatte.

Damit hätte er nichts zu schaffen, meinte der Kurier. Er stelle die verlorenen Gepäckstücke nur zu, nachdem sie sich wieder angefunden haben, und das täten sie in der Regel, wenn es auch mitunter Wochen dauert. Manche Koffer reisen zwischenzeitlich durch die halbe Welt, weil sie versehentlich in andere Flugzeuge verladen wurden. Aber dass sich ein Koffer anfindet, der nicht vermisst wurde, das sei ihm neu.

Wie auch immer, versicherte ich, ich vermisse nichts. Der Koffer gehört mir nicht.

Blödsinn, sagte der Kurier. Dass er dabei war, sauer zu werden, verstand ich sogar, denn er zeigte mir den Adressanhänger, der ganz den Eindruck machte, als sei er handschriftlich von mir selbst ausgefüllt worden.

Ich besah mir das Gepäckstück ein wenig genauer. Es handelte sich um einen Pilotenkoffer, schwarz, vermutlich Kunstleder mit aufgenieteten bronzefarbenen Code-Schnappschlössern.

Aber die Schlösser sind ja aufgebrochen! sagte ich.

Ja, meinte der Kurier. Auch das bedauere die Fluggesellschaft. Aber es gäbe da keine Ausnahmen. Zoll und Grenzschutz müssten alle Gepäckstücke, die verloren gemeldet und wieder gefunden werden, inspizieren. Sie können noch froh sein, sagte er. Die Israelis sprengen sowas, sobald es sich anfindet. Das würde mir in dem Begleitschreiben auch alles erklärt. Ich solle das dann später lesen, denn er hätte wirklich keine Zeit, mir das jetzt alles zu erklären.

Ich bin der Kurier, wissen Sie, liess er sich, ein ganz klein wenig verzweifelt nun vielleicht sogar, vernehmen. Wenn Sie sich beschweren wollen, rufen Sie diese Nummer hier an. Und er zeigte auf eine mit 0180 beginnende Rufnummer im Briefkopf des Begleitschreibens, das ich nun allerdings ebenso wenig in Empfang nehmen wollte wie den Koffer selbst.

Da ich keine Anstalten machte, meine Pflicht als freudiger Empfänger meines geliebten und so lange vermissten Koffers zu tun, drohte die Situation zu eskalieren. Zu allem Überfluss waren nun auch meine Kinder neugierig geworden. Sie schielten durch die offene Wohnungstür auf den Koffer.

Sind da die Geschenke drin, Papa?

Was für Geschenke?

Na, die vielen Geschenke, die Du in Israel für uns gekauft hast!

Die habt ihr doch schon bekommen.

Aber schau, Papa, in dem Koffer sind doch bestimmt noch viel mehr Geschenke drin. Das ist toll.

Ja, Kinder, sagte der Kurier, der Koffer ist bestimmt voll mit Geschenken für euch, und euer Papa hat euch nur nichts sagen wollen, weil der Koffer verloren war. Aber wir haben ihn gefunden, und ich habe ihn hergebracht, mit allen Geschenken drin. Da fehlt nichts.

Hätte mir jemand davon erzählt, ich hätte nicht geglaubt, zu welch hinterhältigen Tricks Kuriere zu greifen bereit sind, um einen Koffer loszuwerden.

Mein Sohn war jetzt nicht mehr zu halten. Er sprang aufgeregt um den Koffer herum, verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber dumpf gegen die Tür unseres Nachbarn Molina, der drinnen auf seiner Geige übte. Ich musste unbedingt das Kräftegleichgewicht wiederherstellen und griff ebenfalls zu einer List.

Geht ihr doch mal rein, sagte ich zu den Kindern, und fragt die Mama, ob sie noch eine Nachspeise für euch hat.

Das funktionierte. Die Kinder flitzten johlend in die Wohnung. Allerdings half mir das nichts. Denn kaum waren sie weg, öffnete José Molina, die Geige in der Hand, die Tür.

Er meinte wohl, ich hätte geklopft. Dass mein Sohn nur versehentlich an seine Tür gebufft war, konnte ich nicht mehr erklären. Ich bemerkte das sympathische Leuchten in seinen Augen, das ich schon von jenem Waschmaschinen-Freitag kannte. Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst.

Ach, sagte er, ihr Koffer ist gebracht worden! Und gleich wandte er sich an den Kurier und fragte, ob er das nicht auch für mich quittieren könne. Er gehöre quasi zur Familie.

Natürlich, sagte der Kurier erleichtert und hielt ihm flugs das Schreibbrett mit der Quittungsliste hin. Molina setzte seine Unterschrift auf die Liste, nahm den Koffer, trug ihn ungefragt über unsere Schwelle und stellte ihn im Flur ab.

Das wär’s dann doch, oder? rief er nach draussen. Doch der Kurier hatte sich schon auf den Weg gemacht. Man hörte ihn, eine halbe Treppe tiefer, nur murmeln: Leute gibt’s! Und ehe ich mich noch erklären konnte, klopfte mein Nachbar mir verständnisvoll auf die Schulter und war, eine Sekunde später nur, samt Geige und dem Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, wieder in seiner Wohnung verschwunden.

Eine Nachspeise nach der Nachspeise gab es nicht. Da ist meine Frau unerbittlich. Auch Geschenke für die Kinder gab es nicht, worüber sie wirklich enttäuscht waren. Der Koffer steht heute, einige Tage nach seiner Zustellung, noch immer ungeöffnet in meinem Büro. Denn es ist nun einmal tatsächlich so – und ich würde das auch vor Gericht beeiden – dass ich diesen Koffer noch nie zuvor gesehen habe.

© Benjamin Stein (2008)

2 Reaktionen zu “Ein Koffer (2)”

  1. Sprachspielerin

    Also ich würde jetzt am liebsten einfach weiterlesen, ich finde das sehr, sehr spannend! Und ich habe zumindest auch nicht das ‚Gefühl‘ etwas nicht verstanden zu haben, was doch dafür spricht, dass Sie das ‚Problem‘ sehr gut gelöst haben! Wann gibt’s den nächsten Teil? ;-)

  2. Benjamin Stein

    Wann gibt’s den nächsten Teil?

    Nun, das liegt natürlich ganz in der Hand dessen, der die Geschicke der Menschen lenkt…

    Was meinen Beitrag dazu betrifft, denke ich aber, wird es mir nun leichter fallen, dem, das erzählt werden will, einfach seinen Lauf zu lassen.

    Vielen Dank für das Feedback, hier und dort.

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