Fallen im Kopf

23. November 2007

••• Als ich A. N. Herbsts 1. Heidelberger Vorlesung „Arbeit in der sterbenden Schriftkultur ist Arbeit am Sterben der Schriftkultur“ las, stand ich noch stark unter dem Eindruck seines ungemein gelungenen Vortrags „Das Weblog als Dichtung“. Letzteren hielt er 2005 im Rahmen des Symposions „Literatur und Strom“ im Literaturhaus Stuttgart, und ich hatte ihn unmittelbar vor der Heidelberger Lektüre mehrfach redaktionell durchzugehen, da er in der gerade in Vorbereitung befindlichen „spatien“-Buchsonderausgabe „Literarische Weblogs“ erscheinen soll.

In seinem Stuttgarter Vortrag entwickelt Herbst mit Verve und phantastischem Beispiel eine Ästhetik des literarischen Webloggens, die nicht nur den resultierenden Text sondern auch die Prozesse seines Entstehens als Kunstwerk postuliert. Die Abgrenzung zu anderen Regionen der vielfältigen Blogosphäre wird gesehen in der Reflektiertheit des öffentlichen Geschehens im Blog, aus der sich nicht nur bestimmte spezifische Formen ergeben, sondern aus der eine eigenständige Poetik in Gestalt einer Theorie des literarischen Bloggens entsteht.

Mit dem Versuch einer Abgrenzung beginnt Herbst auch seine Heidelberger Poetik-Vorlesungen, indem er die eigentlich schon ad acta gelegte Begrifflichkeit von U (Unterhaltung) und E (Ernsthaftigkeit) reanimiert und versucht, die Grenze zwischen beidem im Formellen auszumachen. Obendrein reklamiert er für die (nicht nur literarische) Kunst entschieden einen Platz in der exklusiven, dem Massenmarkt abgewandten, Nische. An seinen Ausführungen reizt mich einiges zum Ein- und Widerspruch.

Beginnen wir mit dem für ein E vorgemachten U. Was bitte tun wir, wenn wir Bücher lesen, wenn wir durch literarische Weblogs surfen, wenn wir in Literaturhäusern Vorträgen über das literarische Webloggen lauschen? Wir unterhalten uns. Wir wohnen, wir sind bekleidet, haben gearbeitet und gegessen – und füllen nun freie Zeit mit einer uns sinnvoll erscheinenden unterhaltenden Beschäftigung. Ob uns die Zeit vergeht angesichts quietschbunter Gossip-Schlagzeilen, des neuesten Harry Potter oder angesichts gemessener Hexameter, das ändert an diesem Umstand nichts. Alles ist U oder – schräg anglophon illustriert gesagt – alles ist E: earnest•entertainment.

Wem nützt die Unterscheidung, diese Grenzziehung? Sie nützt dem Produzenten (hier: dem Autor), der durch Abgrenzung und Einordnung in die E-Kategorie die eigenen Bemühungen und das eigene Werk aufgewertet zu sehen wünscht. Das ist verständlich, geht es doch immerhin um die Verteidigung eines Lebensentwurfs, nämlich: Künstler in Vollzeit zu sein, allen Entbehrungen und anderen daraus resultierenden Nöten zum Trotz. Motivation des Sinnstiftungsversuchs ist die Angst, unterzugehen in den Wogen der unüberschaubaren Masse an Produzenten. Welcher Künstler könnte diese Angst nicht nachfühlen?

Bei allem Wettern gegen den „Markt“ der Masse versucht Herbsts Vortrag allerdings genau mit Mitteln des Marketings dieses Untergehen im amorphen U-Brei zu verhindern, durch die Herausstellung nämlich einer unique selling proposition. Diese sieht Herbst im Formellen, in der Form und geht hier – nach meinem Empfinden – ganz in die Irre.

Alles das, was die ideologischen und die sie verschleiernden sprachlichen Verkrustungen abschlagen wollte – das falsche Pathos; ich betone „falsche“; die Bigotterie, die Selbstfeier – und was an die Leerstellen des Kahlschlags eine lebendige, dem Alltag, also der Lebenswirklichkeit der Leser zugewandte Umgangssprache setzen wollte, hat sich derart den Interessen eines eben diese Lebenswirklichkeit bestimmenden Marktes zugeneigt, daß, was einmal, auch und gerade in den Endsechzigern, progressiv gewesen ist, regressiv geworden ist. Wer heute noch meint, möglichst profan schreiben zu müssen, trägt nicht Eulen nach Athen, sondern Kofferradios in Diskotheken, bzw. Clubs. Da schaltet man sie an und sucht, indes der Techno pulst, nach Sendern.

Wenn Herbst die Rückkehr zum Artistischen, streng Formellen für notwendig erachtet, gibt er sich ganz einem der Hauptgesetze des Marktes hin: Moden. Sie kommen und gehen. Und ihr Gehen wird eingeläutet durch Müdigkeit am Bekannten, täglich Konsumierten. Die Automobilbranche exerziert perfekt, was Herbst hier vorschwebt: Die besten Designs für Autos sind seit langem jene, die beim ersten Auftauchen im Strassenbild Irritation hervorrufen, gar Ablehnung, weil sie den Gewohnheiten zuwiderlaufen. Die besten davon werden mit ein wenig Verzögerung die ästhetische Wahrnehmung der Masse bestimmen, sich wie warme Semmeln verkaufen, bevor sie schliesslich einer neuen Mode Platz machen.

Ob bei Designs für den Massenmarkt oder Kunst – selten gelingt etwas wirklich Neues. Und auch dies wird unvermeidlich eingehen in den Kreislauf der künftig kommenden und gehenden Moden.

Ich sehe für Kunst – und wie Herbst beschränke ich dies nicht auf Dichtung allein, sondern sehe die anderen Künste wie Malerei, Bildnerei und Musik da ganz eingeschlossen – nur ein wirklich sinnstiftendes Element: sie muss zwangsläufig sein und notwendig, indem sie – im Wortsinne – eine Not wendet, nämlich die der Beliebigkeit.

Bei aller Angreifbarkeit der Argumente in Herbst Antrittsvorlesung sehe ich das grösste Problem in der Kaprizierung aufs Intellektuelle und Handwerkliche. Und ich möchte dem entschieden Gottfried Benn entgegen halten, der Dichtung dort findet, wo etwas gesagt wird, weil es erstens gesagt werden musste und zweitens genau so gesagt werden musste, wie es geschehen ist. Das ist ein emotional getriebener Prozess, der jenen Fetzen Dichtung aus dem unübersichtlich wuchernden wilden Fleisch der Beliebigkeit herauslöst. Das ganze Handwerkszeug, das Arsenal an Möglichkeiten (seien sie modern, klassisch oder gänzlich neu) dient nur dem Zweck, einen Anderen (Leser, Zuhörer, Entertainment-Konsumenten) zu öffnen, ihn auf eine besondere Art (wieder) hören, sehen, fühlen zu lassen.

Aber natürlich ist dergleichen nicht am Fliessband zu produzieren. Und es ist vor allem nicht als intellektuell gesteuerter Prozess automatisierbar, den der Autor jeden Tag von XX:00 Uhr bis YY:00 Uhr abspulen kann. Und damit taugt diese Ansicht nicht als Legitimation des Lebensentwurfs eines Vollzeitliteraten. Denn de facto steht dieser – so sehr er sich aus dem Markt herauszuargumentieren versucht – doch mitten darin, folgt seinen Regeln, reagiert auf seine Moden und bedient sich der Instrumente der Marktpflege (bspw. des Marketings).

So meine ich, in den in Herbsts Antrittsvorlesung geäusserten Überlegungen eine verfehlte Lebensentwurfsrechtfertigung zu erkennen. Daher die Grenzziehungen und Heraustellungen, daher die Verteufelung der „Masse“ und des „Marktes“ und gleichzeitig die Ausrichtung auf wiederholbar Handwerkliches, einen plan- und steuerbaren Produktionsprozess. Damit – wage ich zu behaupten – tappt Herbst als Mensch und Künstler in eine Falle, denn er entwickelt eine Poetik, die ihn selbst emotional nicht fordert und herausfordert, sondern den eigenen status quo begründet, heiligt und zementiert – die also mit Richtung auf den Künstler selbst genau das nicht leistet, was sie in Richtung des Lesers erreichen möchte.

38 Reaktionen zu “Fallen im Kopf”

  1. perkampus

    ich finde es sehr schade, dass es nicht gelingt, zu dieser fecettenreichen vorlesung, eine diskussionsplattform zu errichten. es wäre natürlich möglich, ein gespräch in DIE DSCHUNGEL zu lancieren, jedoch würde dort die notwendige fixierung auf den text fehlen. es ist ja nun bereits in einigen weblogs darauf eingegangen worden, das alles im auge zu behalten und miteinander in beziehung zu bringen, halte ich allerdings für ein problem. es stimmt nämlich schon, dass ein grosses für und wider erst zu einem besseren verständnis führt, wenn man es sozusagen einmal im kreis bewegt. ich gehe mal davon aus, dass HERBST durchaus bewusst vorlegt, damit es zu einer werdenden poetik kommt. dieses bier allerdings muss getrunken werden. ich selbst würde an der vorlesung völlig andere punkte aufgreiffen als du – es werden dann genau jene punkte sein, die ein affront gegen mein psychologisches verständnis darstellen. genau darin läge für mich der reiz, diese diskussion nicht so sehr zu streuen, damit man die einzelnen bezugnahmen nämlich nachvollziehen kann. oder aber, wir vernetzten sie anständig. das sage ich allerdings jetzt sehr gemein, ohne zu wissen, was überhaupt daraus werden kann. bedeutend wären im gesamten kontext die wiederkehrenden thematiken, gerade in bezug auf das literarische weblog, das mir, auch in der heidelberger vorlesung übrigens, eine der stützsäulen des versuchs über eine neue poetik zu sein scheint. es geht nicht zuletzt um wahrnehmbarkeit, darin liegt ja letztlich auch die unterscheidung zwischen e und u. diese unterscheidung schien mir aber nicht die althergebrachte zu sein, da ja auch einer umverteilung (in etwa starker pop-werke) zugestimmt wurde, die grenzlinie also ganz woanders zu ziehen ist. also nochmal: ich glaube (das glaube ich übrigens immer), dass es um wahrnehmung und wahrnehmbarkeit geht. eine sterbende schriftkultur ist auch sprachverfall, eine kommunikation zurück zum höhlenbild, wenn man so will, jedoch mit technischer brillianz. das wort war für mich stets ein gedankensymbol, schon das morphem ist es; als zeichen umfasst es bereits den gesichtssinn, trägt also das, was schliesslich sein untergang sein wird, in sich. jetzt könnte man salopp behaupten: die dichtung kam aus dem laut und nicht aus dem geschriebenen wort, das erste gepinselte wort war bereits sprachverfall – doch da würde ich wohl gegenwärtig zu weit abschweifen.

  2. Benjamin Stein

    Ich hätte zu dieser Vorlesung auch durchaus noch mehr anzumerken, habe mich aber entschlossen, mich in dieser ersten Replik auf das angesprochene Problemfeld zu beschränken.

    Natürlich wäre es am ehesten für die „Dschungel“ angemessen, Repliken und Debatten zum Thema gesammelt anzubieten. Wir können das aber ebenso auch hier tun, also wenn Du beispielsweise noch mehr schreiben möchtest zu anderen Facetten des Vortrags.

    Ich bin da ganz offen.

  3. perkampus

    mich würde in erster linie interessieren, wie wir da weiterkommen. es nützt ja nichts, wenn wir beide hier etwas plaudern. nun sehe ich nicht, dass die vorlesung überhaupt als diskussionsgrund gesehen wird. ich weiss natürlich nicht, wie es sich im umfeld der lesung selbst verhält, was jene, die dort waren, zu sagen haben, wo sie es zu sagen haben etc.

    es gibt in DIE DSCHUNGEL jene, die zu blöde sind, zu verstehen, was HERBST da eigentlich tut und andersherum: jene, die nicht zu reflektieren wissen und lieber seinen poposchmalz aufsaugen. beides ist freilich weniger dazu angetan, einer neuen poetik eine grundlage zu bieten. ich glaube, dazu sind auch die geisteskapazitäten benachbarter autoren zu schwach.

    ich glaube aber – und das habe ich vor drei jahren, als ich die LA ans netz brachte – und nicht zuletzt durch das sinnentleerte geschwafel der NZZ am sonntag über literatur im netz – dass hier eine orientierungslosigkeit herrscht, die beinahe sensationell ist. die avantgarde war stets theorielastig, das lässt sich auch gar nicht vermeiden. es gehört mut dazu, sich nicht zu verstecken, sondern als erster den schritt nach vorne zu wagen, das weiss ich – und HERBST weiss es wahrscheinlich noch viel besser.

    ich sehe aber auch, dass HERBST gut daran tut, das hauptproblem offen anzusprechen, nämlich das, was ich nicht müde werde, kulturfaschismus zu nennen – dem er ja zum opfer fällt: dem markt, der ja im einzelnen noch nicht einmal vom dünkel der saftlosen abhängt, die da meinen, etwas liesse sich nicht verkaufen, sondern von persönlichem stillstand. in der brd war das schon immer ein problem, auch zu zeiten arno schmidts. geändert hat sich nichts und ändern wird sich auch nichts, wenn die möglichkeiten nicht völlig eruiert werden können, die die AUTOREN schliesslich hätten, wenn sie nicht allesamt solche schleimrutscher wären, die ja in der mehrzahl immer noch wie die made im speck leben, weil sie protegiert werden, eben von jenen benannten saftlosen – unabhängig davon, was sie tatsächlich schreiben oder können. das kann ja alles gar nicht oft genug angesprochen werden – und DANN kommen wir, unter diesem aspekt noch einmal auf die unterscheidung u und e zurück: dann ist, so wie ich das sehe, die u das, was der masse zur beurlaubung des geistes angeboten wird, folglich das direktive, während e subersiv ist, aber eben notwendiig subversiv. kunst, wenn sie nicht subversiv ist, kann nur als arbeitstherapie, zb. in irrenhäusern, taugen. da darf man dann die blümchen zur freude der dicken lieben euter-mama malen und sie wird uns busserln. oh welch ein schmaus! der (durchgeknallte) bub führt mich aus dem tristen alltag, mit pril-blumen und seiner guten absicht, kreativ zu sein!

    ne, freunde. ich sehe das intellektuelle, das es schafft, sein gefühl zu bewahren (diese bedenken sah ich bei dir angemerkt), als das schwert, das das universum weiter aufreisst und nicht zuletzt dazu da ist, um uns allen selbst einen schritt näher zu kommen, denn wir kennen uns ja gar nicht. sagen wirs mit leon bloy: keiner weiss, wer er ist. das sollten wir aber schleunigst ändern.

  4. Benjamin Stein

    Mit Deinem Begriff des Kulturfaschismus kann ich mich einfach nicht anfreunden. Ein nicht gedrucktes Buch ist noch immer etwas anderes als ein öffentlich verbranntes Buch. Im übrigen ist doch die Publikationsliste von Herbst beeindruckend lang. Verfemte Autoren halten auch keine Poetikvorlesungen.

    Ich denke, der Begriff des Kulturfaschismus geht völlig in die Irre. Faschismus ist ein Diktaturmodell. Markt ist eine zutiefst demokratische Angelegenheit – wenn wir einmal mafiös durchsetzte Märkte aussen vor lassen.

    Man muss da schon die Kirche im Dorf lassen. Solange man die Möglichkeit zum Publizieren hat – und die ist ja gegeben, nicht nur via BoD und Blog – dann muss der Leser schon das Recht haben zu entscheiden, ob und wie viel er/sie lesen möchte. Bleibt noch das Thema Stipendien und Preise, wo natürlich der „Betrieb“ die Karten mischt. Aber auch hier kann ich nur sagen: Es gibt keine Verpflichtung irgendeines Staates oder einer Institution, bestimmte Künstler zu fördern, so dass sie als Vollzeit-Literaten überleben können, auch wenn dies der Verkauf ihrer Bücher nicht ermöglicht. Auch in diesem Fall finde ich es nicht redlich, von Kulturfaschismus zu reden.

  5. perkampus

    mein lieber benjamin! du willst mir doch jetzt nicht allen ernstes nun erzählen wollen, dass MARKT ein demokratisches modell darstellt! auf dem papier mag sich das doch alles schön ausmachen, aber mein lieber: markt IST eine diktatur. ich muss wohl nun nicht erwähnen, dass eine demokratie, wenn sie schon sein muss und soll – von einer gleichheit auszugehen hat, die ich aber nun nirgend wo sehe, weil sie ausschliesslich formel existiert (ich bleibe gerne nur bei der literatur, alles andere würde mir zu politisch als solches). mit simplesse: dem leser wird diktiert, was er zu lesen hat. wir haben heute noch einen schaden auszubaden, den die 47er mit ihrem (wenn dir der name besser gefällt) literaturmonopol angerichtet haben. kulturauftrag! sich selbst auftragen, was die verlage zu drucken haben. es geht doch nicht darum, vom schreiben leben zu können, dazu müsste man mit den gängigen prioritäten endgültig aufräumen wollen und wäre utopist – nämlich jemals anzunehmen, ein intellektuelles projekt verdiene die gleichen schwemmgelder wie das gehampel des körperkults, genannt sport.

    hier geht es darum, gedanken zu wagen und freilich bin ich bissig; wer wäre ich denn, nicht selbst zu wissen, dass meine begrifflichkeit überhaupt nicht zum verhandeln einläd, sondern abknallen will. mit mir kann kein freund werden, wer all das, was stupide und schwach ist, folglich degeneriert, am denken und erkennen hindert, überhaupt: jegliche entwicklung im keim erstickt, fördert. wo das geld sitzt, sitzen die schweine. selbstverständlich ist die marktwirtschaft ein moloch, selbstverständlich ist jede erwerbstätigkeit von vorneherein mafiös, commortan, selbstverständlich wird alles, was sich nicht hineinfügt, zum verrecken gebracht. und soll ich dir noch was krudes sagen? es ist ein jammer, dass jene, die zu arbeiten haben, das nur im schnitt acht stunden tun und auch noch zwei tage frei haben, ganz abgesehen von urlaub und solchen dingen. so kommt es überhaupt, dass ein jeder plötzlich schreibt, malt, musiziert – so kommt es zu einer schwemme, der man nicht mehr herr werden kann und so kommt es überhaupt erst zu der möglichkeit von der masse für die masse schmieren zu lassen. künstler ist man aber im angesicht des abgrunds, niemals eine freie entscheidung, gar keine wahl. wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir mein leben adrett eingerichtet, ich könnte mein geld im schlaf verdient haben – aber es ging nicht, weil ich auf der anderen seite stehe, weil ich nicht anders kann, als dem genialistischen prinzip zu folgen. doch es geht nicht um mich, ich bin in allen belangen ein ausnahmefall. es geht um die sache selbst.

  6. Benjamin Stein

    Das lädt nun wirklich zur Polemik ein, mein Lieber. Die Gefängnisse und Anstalten sind voll mit Leuten, die „nicht anders konnten“. Aus dem Umstand, nicht anders zu können, ergibt sich für die Welt dort draussen nicht die geringste Verpflichtung zur Anerkennung. Auch scheint mir Deine Vorstellung von Demokratie jene der griechischen Polis zu sein, welche sehr gut damit leben konnte, dass neben den Abstimmungshallen ein Heer von Sklaven vegetierte, die rein gar nichts zu melden hatten. Also soll man nun die 7-Tage-10-Stunden-Woche für die „gewöhnlichen“ Werktätigen wieder einführen, damit jene um Himmels willen nicht auf die Idee kommen, Bücher zu schreiben und damit den durch den Zwang des Tuns geheiligten „wahren Künstlern“ Marktanteile streitig machen?

    „Wo das Geld sitzt, sitzen die Schweine.“ Durch welche Schule bist Du denn gegangen? Da stimmt doch etwas grundsätzlich nicht.

    Verhandeln liegt Dir nicht, eher schon abknallen. Siehst Du denn nicht, um wieviel näher Dein Elitendenken und solche Einlassungen am Totalitären des Faschismus sind als alles, was sich da draussen im Kunstmarkt abspielt?!

    Wieder und wieder kommen mir solche Einlassungen vor wie das Jammern des ungeliebten Kindes. „Die mögen mich nicht! Alles Verbrecher!“ Und hinterdrein gleich: „Ich will auch gar nicht geliebt werden!“. – Aber genau das scheint mir dahinter zu stecken: den grossen Künstlern wird die Liebe verweigert. Ein narzisstischer Antrieb, der mit Kunst gar und gar nichts zu tun hat.

    Das alles ist ja hochverständlich. Aber man darf doch nicht so unreflektiert sein, daraus auch noch eine Theorie machen zu wollen.

  7. perkampus

    poelemik. ja. und denkbar weit weg von dem, um das es gehen sollte.

    eins nur noch, dann sollten wir zurückkehren: gefängnisse und anstalten sind nicht voller leute, die „nicht anders konnten“, sie sind in erster linie voll von jenen, die nicht in das gegenwärtige gesellschaftsbild passen, unabhängig von ihren handlungen. wie sich das auf die „anstalten“ anwendet, weiss ich nur zu genau – da fand ich dann auch die gründe, die mich von jeglicher gängigen psychologie, die ja längst nur noch eine psychiatrie ist, völlig entfernen mussten – und es taten.

    zweitens: das oft beschworene „ungeliebte kind“ trifft auf mich nicht zu. ganz im gegenteil habe ich keinerlei misserfolge zu verzeichnen, ausser jenen, die ich mir selbst verwehre. wenn ich mich aber gegen die völlig falsche lebensweise der menschen auflehne, dann tue ich das insgesamt. ein jeglicher faschistischer gedanke scheidet bei mir aus. ein beispiel: wenn breton zum beispiel anmerkt, dass die einfachste surrealistische handlung darin besteht, mit einem revolver auf die strasse zu gehen und wahllos in die menge zu schiessen, hat das schlicht etwas zu bedeuten, das, ich gebe es zu, in heutiger zeit, schwerlich zu begreifen ist. ich möchte mich da auch nicht erklären, ich wollte nur sagen, dass ich kaum glaube – dass ich es sogar weiss: breton war kein faschist. allerdings ist es wahr: ich bin elitär. das scheint mir aber gegenwärtig ebenso missverständlich zu sein als alles andere.

    dennoch glaube ich – um da mal wieder hinzugelangen – bei HERBST ebenfalls einen elitären gedanken auszumachen. das halte ich für notwendig, ich sehe das bei allen grossen denkern. wenn man nun e und u noch einmal unterm tisch hervorzieht, zeigt sich der elitäre gedanke kristallklar.

  8. Benjamin Stein

    gefängnisse und anstalten sind nicht voller leute, die “nicht anders konnten”, sie sind in erster linie voll von jenen, die nicht in das gegenwärtige gesellschaftsbild passen, unabhängig von ihren handlungen.

    Das ist nun freilich eine interessante alternative Wahrnehmungsvariante, die auch etwas für sich hat.

    … dass die einfachste surrealistische handlung darin besteht, mit einem revolver auf die strasse zu gehen und wahllos in die menge zu schiessen …

    Das von Breton? Dann habe ich vom Surrealismus wohl nichts begriffen… Aber immerhin nunmehr etwas vom p.- Das ist doch auch was.

  9. Moderne Hirnforschung - Der Menschenfeind « P.-’s Veranda

    […] vorerst einmal nicht um Lyrik. Noch steht eine eigentlich Maßgebliche, wenn auch punktuelle, Kritik im Turmsegler. Das Problem des Aufsatzes ist von vorneherein seine weite Streuung. In Die Dschungel selbst wurde […]

  10. perkampus

    dieser »» link schliesst zwar nicht an die vorangegangene diskussion an, aber es ist ein versuch, das, was sich aus der vorlesung ANH’s ergibt, etwas zu bündeln, insofern es benjamin recht ist.

    der kurze einwurf, den ich da schrieb, nimmt nicht direkt bezug auf das, was ANH in seiner vorlesung sagte, und doch hat mich beim ersten überfliegen bereits die kurze erwähnung der modernen hirnforschung dazu verleitet, das so zu schreiben. auch gestützt durch die annahme, dass einiges von ANH’s ästhetik schlussendlich darauf beruht.

  11. Teramaschine und Poesie « Turmsegler

    […] auch die Einlassungen von A. N. Herbst (in seiner Poetikvorlesung) sowie von Michael Perkampus in Kommentaren zu meiner Kritik an eben dieser Vorlesung im Subtext mit sich führen: das ambivalente […]

  12. mikel

    Das ist ein sehr, sehr guter Artikel, ich könnte jeden Satz unterstreichen, wenn solchiges denn sinnvoll wäre.

    Eigentlich wollte ich hin, in die Uni, zumindest zur zweiten Vorlesung, obwohl es nicht in der Aula stattfand, aber als ich diesen seltsamen Einlass zu U und E las, war das Thema bereits erledigt.

    Thomas Groß vom Mannheimer Morgen war dort und schrieb zum Schluss (der Link geht inzwischen ins Archiv)

    Der titelgebende „kybernetische Realismus“ begreift als Wirklichkeit, was eben wirke. Wo man eine solche Literatur findet? Zum Beispiel wohl in Herbsts letztem Teil der „Anderswelt“-Trilogie, die kurz vor ihrem Abschluss steht.

    Ganz zart angedeutet, wie hier im Artikel auch: Es scheint um eine Art intellektuelle PR zu gehen.

    Wobei Poetik in Heidelberg immer auch im Kontext der Stadt selbst gesehen werden könnte, als Objekt….

  13. perkampus

    Mich würde anbei interessieren, was so schwer an der Unterscheidung U und E wiegt, das man nicht verstehen mag, was hier gemeint sein könnte. Mir kommt es oft so vor, als sei es ein Aufschrei der unteren Reihen, die ihren Soap-Charakter gerne als High Fidelity sehen würden, dabei aber kackt und knarzt es aus den Lautsprechern, dass es keine Freude mehr ist.

    Meines Wissens wurde nicht kategorisiert, was denn das eine oder das andere zu nenne sei, nirgendwo steht der Satz, dass nicht der höchste Anspruch eines Werkes auch unterhaltend sei (wer wollte sagen, Joyce, Beckett, Pynchon, Lima, Borges, selbst Schopenhauer oder Wittgenstein seien nicht unterhaltsam?) Mir dünkt, hier geht es um etwas anderes. Kunst ist schließlich alles, was nicht wächst, Kunst ist Schöpfung durch uns, aber während U das einschläfernde, beruhigende, ablenkende meint, sehe ich E als anregend, mitsprechend, auffordernd an. Es kann sein, dass ich das ganz alleine so sehe, das muss ich einräumen, weil ja wirklich kein Schwanz etwas dazu zu sagen hat. So entwickelt sich etwas, das seine Kritik auf ganz andere Füsse stellt, zu einem Zweig der Polaritäten innerhalb der Kunst selbst – und da würde ich gerne wissen, was dort missverstanden wird, oder: von mir aus, nicht akzeptabel erscheint.

    Und dass Wirklichkeit das sei, was wirke… nun… was um alles in der Welt sollte es sonst sein und wieso?

  14. Benjamin Stein

    Dass es einen kategorischen Unterschied gibt zwischen Kunst und purer Unterhaltung, dass Wittgenstein sich sehr wohl unterscheidet von Schlager-Trallalla, das hat hier und anderswo ja niemand in Frage gestellt. Meine obige Kritik richtete sich nicht gegen die Kategorisierung, sie richtete sich gegen die Kriterien, die Herbst bemüht, um die Unterscheidung zu treffen.

    Tatsächlich ist es bedauerlich, dass ANH selbst offenbar keine Zeit und/oder Gelegenheit gefunden hat, hier auf den Beitrag einzugehen. Aber es besteht dazu ja nun auch keinerlei Verpflichtung. So ist es nun einmal.

  15. ANH

    Nun also meine schon lange angekündigte Entgegnung.

    Der Reihe nach.

    I. zu Benjamin Stein:

    die eigentlich schon ad acta gelegte Begrifflichkeit von U (Unterhaltung) und E (Ernsthaftigkeit)

    W e r hat ad acta gelegt? Gibt es da einen Namen, eine Institution, zu kennzeichnende Gruppen? Oder handelt es sich nicht viel mehr um einen common sense, der sich als Struktur von anderen, auch historisch gewordenen, common senses gar nicht unterscheidet, nur daß jetzt die, die ihn als Gegebenheit postulieren, auf der „guten Seite“ stehen, bzw. zu stehen meinen? Daß es keinen Unterschied zwischen U und E gebe, krähen unterdessen ja selbst die schrumpeligsten Feuilleton-Hähne und reiben sich ihre mit Solidarität schmierig gemachten Hände. Für mich gilt hier: Leute, freßt Scheiße, Millionen Fliegen k ö n n e n nicht irren.

    ….reklamiert er für die (nicht nur literarische) Kunst entschieden einen Platz in der exklusiven, dem Massenmarkt abgewandten, Nische.

    Von einer Nische steht bei mir nirgendwo etwas; im Gegenteil geht mein Ansinnen dahin, einen Teil der verlorenen ästhetischen Leitfunktion zurückzugewinnen. „Nische“ wäre nur dann ein angemessener Terminus, wenn man von Eliten sagte, daß sie in einer Nische stünden. Sofern Eliten aber den Markt maßgeblich mitbestimmen (und die Wissenschaften, die Medizin, und da ja wohl – die Göttinnen seien uns gnädig – mit einem Recht, das uns befreit ausatmen läßt), ist der Begriff Nische ganz sicher falsch.

    Beginnen wir mit dem für ein E vorgemachten U.

    Wo in meiner Vorlesung habe ich ein Kunstwerk als ein Werk der U-Literatur ausgegeben?

    Was bitte tun wir, wenn wir Bücher lesen, wenn wir durch literarische Weblogs surfen, wenn wir in Literaturhäusern Vorträgen über das literarische Webloggen lauschen? Wir unterhalten uns. Wir wohnen, wir sind bekleidet, haben gearbeitet und gegessen – und füllen nun freie Zeit mit einer uns sinnvoll erscheinenden unterhaltenden Beschäftigung. Ob uns die Zeit vergeht angesichts quietschbunter Gossip-Schlagzeilen, des neuesten Harry Potter oder angesichts gemessener Hexameter, das ändert an diesem Umstand nichts.

    Doch, das ändert Entscheidendes. Gossip-Schlagzeilen und Harry Potter haben deshalb Erfolg, weil sie (bewußt oder unbewußt) auf Erwartungen zugeschnitten sind , die sie weder transzendieren können noch wollen. Di Crescenzo hat für den Kitsch den Satz geprägt: „Kitsch ist Abwesenheit von Scheiße“. Genau das trifft auf Kunst nicht zu. Vielmehr konfrontiert sie immer wieder auch mit Unangenehmem, das ich in meiner Vorlesung – aus der Perspektive der Produktion – „Ausgegrabenes“ genannt habe. Es ist nachweisbar, daß U-Stücke genau so etwas vermeiden, weil sie nicht riskieren können und ihrer eigenen Marktgesetzlichkeit halber auch nicht dürfen, Unwillen im Rezipienten zu erregen. Ob es das tut oder nicht, ist einem Kunstwerk aber schnuppe. Es ist e s – und ob es ein Markt-Erfolg wird oder nicht, spielt während es entsteht allenfalls eine marginale Rolle. Anders bei U-Stücken. Die werden direkt auf den Markt zugeschrieben und erfüllen Bedürfnisse, die oftmals nicht einmal solche d!
    er Subjekte-an-sich, sondern über industrielle Bedürfniserzeugung geweckt worden sind.

    Unabhängig hiervon glaube ich, daß die Meinung, es gebe zwischen U und E keinen Unterschied, erstens übersieht, daß zwei Begriffe da sind, die ja etwas m e i n e n, zum anderen, das ist schwerwiegender, daß jede Generation mit und nach der meinen über U tiefenwirkend sozialisiert worden ist. Ursprünglich war das sogar Widerstand: es ging darum, die verstaubten Motte-Eliten von den Podesten und aus ihren Machtpositionen zu stürzen. Dagegen stand der frühe Pop, dagegen standen die Liedermacher, dagegen stand auch eine Form von Arbeiterliteratur, die allerdings ihre Subjekte kaum je erreicht hat. Beim Pop brauchte es nur verschwindend wenig Zeit, bis der Markt ihn geradezu komplett in sich eingesaugt hatte und genau die nun über ihn verfügten, die man weghaben wollte – und jetzt ihre Erben, die im vollen Bewußtsein, auf der guten Seite zu stehen, die gefallene Trennung von Kunst und Unterhaltung verdinglichend zementieren..

    Alles ist U oder – schräg anglophon illustriert.

    Eben. Da zeigt das Teufelchen schon mal die Hörner.

    gesagt – alles ist E: earnest•entertainment. -Wem nützt die Unterscheidung, diese Grenzziehung?

    Eine mir völlig gleichgültige Frage. Sie ist so, als formulierte man: Wem nützt es, daß Bäume grün sind, wenn doch ein Blau die gleichen Funktionen erfüllt? Im übrigen ist Ihre Frage rein rhetorisch, da Sie die Antwort ja sofort nachliefern („hört her, ich weiß den Hintergrund“):

    Sie nützt dem Produzenten (hier: dem Autor), der durch Abgrenzung und Einordnung in die E-Kategorie die eigenen Bemühungen und das eigene Werk aufgewertet zu sehen wünscht.

    Woher wissen Sie, daß ich das wünsche? Sie argumetieren psychologisch mit einem moralischen Unterton und vermeiden dadurch eine Sach-Auseinandersetzung, die nach Form fragen würde, nach Intention der Dichtung-selbst usw. Das setzen Sie jetzt auch noch ins r e i n -Persönliche um:

    doch immerhin um die Verteidigung eines Lebensentwurfs, nämlich: Künstler in Vollzeit zu sein, allen Entbehrungen und anderen daraus resultierenden Nöten zum Trotz.

    Mein Lebensentwurf ist seit knapp dreißig Jahren – mit allem dazugehörenden Auf und Ab – ganz sicher kein „Entwurf“ mehr, sondern ein Lebens-Faktum.

    Motivation des Sinnstiftungsversuchs ist die Angst, unterzugehen in den Wogen der unüberschaubaren Masse an Produzenten.

    Ich habe diese Angst nicht. Nicht, solange ich Möglichkeiten habe, etwas anderes durchzukämpfen. Da mir Kampf liegt, kommt mir das sogar entgegen. Aus meiner Produktivitätswirklichkeit gesprochen: Wann immer ein besonders harter mieser Umstand war, regte mich das zu einer besonders vorgetriebenen Produktion an. Für schlechte Kritiken galt immer und gilt immer noch dasselbe: sie stacheln mich nur an, nun erst recht und mit besonderer Kraft weiterzumachen. Unter anderem deshalb sind >>>> Die Dschungel entstanden, die man gewiß schon lange nicht mehr unter meine erfolglosen Projekte rechnen kann.

    Welcher Künstler könnte diese Angst nicht nachfühlen?

    Ist doch wurscht, ob das jemand nachfühlt. Er soll arbeiten und nicht wimmern.

    Bei allem Wettern gegen den „Markt“ der Masse versucht Herbsts Vortrag allerdings genau mit Mitteln des Marketings dieses Untergehen im amorphen U-Brei zu verhindern, durch die Herausstellung nämlich einer unique selling proposition. Diese sieht Herbst im Formellen

    Nein, denn mit selling hat das überhaupt nichts zu tun; daß ich „die Form“ favorisiere, hat etwas mit meiner 30jährigen künstlerischen Erfahrung zu tun und mit Entwicklungen, zu denen sie mich höchst organisch geleitet hat….

    und geht hier – nach meinem Empfinden – ganz in die Irre. (…) Wenn Herbst die Rückkehr zum Artistischen, streng Formellen für notwendig erachtet, gibt er sich ganz einem der Hauptgesetze des Marktes hin: Moden.

    Wann waren Formen „Mode“, wann waren sie es nicht? Wenn Sie die großen Kunstwerke hernehmen, aus allen Jahrhunderten, war ihnen allein gemeinsam: Formbemühung. Entweder durch Erweiterung, Umstoßung oder durch Erfüllung vorhergegangener Formen, die auch als umgestoßene in aller Regel immer wieder Renaissancen erlebt haben. Nun können Sie natürlich sagen, die Renaissance-selber sei selber nur eine Mode gewesen. Dann argumentieren Sie aber an jeglicher Kunstentwicklung vorbei, und es entgehen ihnen wesentliche Bestimmungen, unter denen Kunst steht. Noch die Romantik, noch der Expressionismus sind nachweisbar und immer auf Vorgängiges bezogen gewesen. In der Literatur findet ein permanentes Gespräch aller je erschienenen Dichtungen miteinander statt.

    Ihr Fehler in dieser Argumentation rührt aber gerade daher, daß Sie auf Kunst Kriterien anwenden, die tatsächlich nur für die U-Sparten gelten. D a haben Sie recht:

    Sie kommen und gehen. Und ihr Gehen wird eingeläutet durch Müdigkeit am Bekannten, täglich Konsumierten.

    Das ist, was für den Pop gilt. Ganz genau. – Schon aber begehen Sie den nächsten Fehler:

    Die Automobilbranche exerziert perfekt, was Herbst hier vorschwebt: Die besten Designs für Autos

    Sie halten Form für Design. Ein Sonett, und das wissen Sie nun am besten, ist aber kein Design eines Gedichtes, sondern die Form, die sich ein Ausdruck notwendig sucht. Ist das anders, handelt es sich um ein schlechtes Sonett und somit nicht mehr um Kunst. Ihr Fehler besteht darin, daß Sie mit den Kriterien dessen argumentieren, von dem ich sage, daß es falsch sei: nämlich mit den Kriterien einer Identität von U und E.

    (…) Und auch dies wird unvermeidlich eingehen in den Kreislauf der künftig kommenden und gehenden Moden.

    Das sind so Aussagen vom Schlage „Ich aber sage euch“, die mich ratlos machen, weil ich nur sagen kann: Woher weiß er das? Ist er bereits 8000 Jahre alt und wird 15000 Jahre alt werden, voll einer prophetischen Sicht auf die Zukunft, die ihn das mit evidenter Visionskraft so wahrnehmen läßt? Ich meinerseits finde das Design einer Postkutsche fundamental verschieden von dem eines Ferraris: beide treffen sich im Funktionalen (etwa bei Rädern und Sitzen), das ist es dann aber auch schon. Selbst die sinnlichen Wahrnehmungen sind in jedem von beiden verschieden.

    Ich sehe für Kunst – und wie Herbst beschränke ich dies nicht auf Dichtung allein, sondern sehe die anderen Künste wie Malerei, Bildnerei und Musik da ganz eingeschlossen – nur ein wirklich sinnstiftendes Element: sie muss zwangsläufig sein und notwendig, indem sie – im Wortsinne – eine Not wendet, nämlich die der Beliebigkeit.

    Provisorisch einverstanden und mit der Bitte versehen, das auf einen der grad gängigen Chart-Schlager anzuwenden, da ja zwischen dem und, sagen wir, einem neuen Musikstück Wolfgang Rihms kein wertender Unterschied mehr besteht.

    Bei aller Angreifbarkeit

    “Angreifbarkeit“ schon, das gilt auch für den ersten Satz der Thermodynamik – jetzt wäre aber das Problem einer Widerlegung der Argumente in Herbst Antrittsvorlesungzu lösen

    -sehe ich das grösste Problem in der Kaprizierung aufs Intellektuelle und Handwerkliche.

    Darüber, in der Tat, spräche ich gern.

    Und ich möchte dem entschieden Gottfried Benn entgegen halten, der Dichtung dort findet, wo etwas gesagt wird, weil es erstens gesagt werden musste und zweitens genau so gesagt werden musste, wie es geschehen ist.

    M u ß t e „Der Panther“ so gesagt werden? Wer weiß das? Mußte Der Zauberberg so und überhaupt geschrieben werden? Gab es eine – andere als bloß persönlich-psychische, also letztlich pathologische – Notwendigkeit, pointillistisch zu malen oder so, wie es die Jungen Wilden taten? Das, in der Tat, finde ich eine interessante Fragestellung. Nur kommt sie, ohne daß Sie das offenbar merkten, meinen Positionen unversehens sehr nah.

    Das ist ein emotional getriebener Prozess

    Was s i n d Emotionen? Nicht chemische Prozesse an ihrem Grund?

    der jenen Fetzen Dichtung aus dem unübersichtlich wuchernden wilden Fleisch der Beliebigkeit herauslöst

    Verzeihen Sie, aber das finde ich einen expressionistischen Kitsch. Wenn ich sowas tippte, hätt ich klebrige Fingerspitzen.

    Das ganze Handwerkszeug, das Arsenal an Möglichkeiten (seien sie modern, klassisch oder gänzlich neu) dient nur dem Zweck

    Woher wissen Sie das? Sie behaupten hier und bleiben jeden Beleg schuldig.

    einen Anderen (Leser, Zuhörer, Entertainment-Konsumenten) zu öffnen, ihn auf eine besondere Art (wieder) hören, sehen, fühlen zu lassen.

    Also für mich kann ich sagen, daß mir der Rezipient, während ich einen Text schreibe, völlig egal ist. Ich schreibe für einen inneren Leser, der nicht ich ist, der aber auch nicht die anderen ist, sondern eine neben, sagen wir, Es, Ich und Über-Ich Vierte und Fünfte Instanz.

    Aber natürlich ist dergleichen nicht am Fliessband zu produzieren. Und es ist vor allem nicht als intellektuell gesteuerter Prozess automatisierbar, den der Autor jeden Tag von XX:00 Uhr bis YY:00 Uhr abspulen kann.

    Woher wissen Sie all das? Das mag auf S i e zutreffen, das möchte ich gar nicht bestreiten, weil die Produktionsnotwendigkeiten der Individuen ganz verschiedene sind, die meine allerdings sieht streng durchgeformte Arbeitszeiten v o r, und ich stehe damit nicht einmal allein.

    Und damit taugt diese Ansicht nicht als Legitimation des Lebensentwurfs eines Vollzeitliteraten.

    Da es nur Ihre M e i n u n g war, daß meine Position aus solchen Motiven herrührt, ist auch der Schluß logischerweise nicht Schluß (conclusio), sondern abermals Meinung. Philosophisch argumentiert handelt es sich um eine conclusio in adjecto, die genau das beweist, was schon die Voraussetzung (These) der Schließkette war. Mit deren Wahrheit oder Nichtwahrheit steht und fällt dann auch der „Schluß“

    Denn de facto steht dieser – so sehr er sich aus dem Markt herauszuargumentieren versucht …

    Wo habe ich das getan?

    … doch mitten darin, folgt seinen Regeln, reagiert auf seine Moden und bedient sich der Instrumente der Marktpflege (bspw. des Marketings).

    Wo habe ich das bestritten – wo es mir auf Präsenz und Durchsetzung innerhalb eines Marktes geht. Na klar. Ich wär ja blöd, wenn nicht. Nur läßt das weder einen Rückschluß auf die Produktion des Kunstwerkes-selber oder eben nur dann und da zu, wo man es für ein Erzeugnis der U-Sparten hält, noch auf die Motivation, sich überhaupt daranzutrauen.

    So meine ich, in den in Herbsts Antrittsvorlesung geäusserten Überlegungen eine verfehlte Lebensentwurfsrechtfertigung zu erkennen.

    Jetzt wiederholen Sie das auch noch. Es wäre doch einfacher und weniger arbeitsam und daher ergebiger gewesen, Sie hätten nach der Lektüre meiner Vorlesung einfach nur geschrieben: Ich glaube, daß ANH das nur schreibt, weil er seinen problematischen Lebensentwurf rechtfertigen will. Dann hätten ein paar geschrieben: Ja, genau! Und ein paar andere hätten geschrieben: Das glaube ich aber nicht. Und alles wäre im Meinen ganz berechtigt steckengeblieben. So blieb Ihre Kritik halt unberechtigt stecken und läßt Sie unbegreiflicherweise dann auch noch schreiben:

    (…) Damit – wage ich zu behaupten

    Das stimmt, es i s t ein Wagnis, und riskiert wird Blamage…

    – tappt Herbst als Mensch und Künstler in eine Falle, denn er entwickelt eine Poetik, die ihn selbst emotional nicht fordert

    echt nicht? Woher wissen Sie das? Kennen Sie meine inneren Konflikte? Mal im Ernst und ganz gütig gefragt: die vielen Überarbeitungen, skeptischen Äußerungen, das ständige Umwerfen von auf den ersten und auch schon zweiten Blick scheinbar Fertigem, wie Sie das täglich Den Dschungel entnehmen können —- das ist für Sie alles nichts als ein Ausdruck von marketing? Dann hätten Sie wirklich nichts, aber auch gar nichts verstanden…

    und herausfordert, sondern den eigenen status quo begründet, heiligt und zementiert – die also mit Richtung auf den Künstler selbst genau das nicht leistet, was sie in Richtung des Lesers erreichen möchte.

    Noch einmal: Ich m ö c h t e nichts in Richtung des Lesers erreichen. Während ich schreibe, interessiert er mich nicht. Ist das Buch dann aber da, dann interessiert er mich s c h o n. Und ich freue mich unbändig, wenn er Vergnügen, Angst, Lust, Beklemmung, Wollust usw. bei der Lektüre empfindet – und auch, wenn sie ihn einfach nur, um dieses schöne alte Wort zu verwenden, erbaut. Dann bin ich sogar glücklich.

    II. Zu den Kommentaren:

    1. perkampus

    (…) es stimmt nämlich schon, dass ein grosses für und wider erst zu einem besseren verständnis führt, wenn man es sozusagen einmal im kreis bewegt.

    Sofort einverstanden. Das betrifft auch meine eigene Erkenntnisfindung.

    Auch mit einem eigenen Text.(…) oder aber, wir vernetzten sie anständig.

    Klug. Und unserem Medium hier angemessen. Ich habe in Der Dschungel bereits ein wenig dafür was getan.

    (…) das literarische weblog, das mir, auch in der heidelberger vorlesung übrigens, eine der stützsäulen des versuchs über eine neue poetik zu sein scheint.

    Meine Grundfrage ist: Wie kann ich das, an was wir alle hängen, in die neuen Formen künstlerischer Kommunikation überführen, wie ihm einen weiterhin angemessenen Raum im Netz geben? Darüber habe ich u.a. in >>>> der zweiten Vorlesung gesprochen.

    (…) darin liegt ja letztlich auch die unterscheidung zwischen e und u. diese unterscheidung schien mir aber nicht die althergebrachte zu sein, da ja auch einer umverteilung (in etwa starker pop-werke) zugestimmt wurde, die grenzlinie also ganz woanders zu ziehen ist.

    S o steht das bei mir. Und s o stimmt das.

    (…) eine kommunikation zurück zum höhlenbild

    Vilém Flusser hatte u.a. diesen Ansatz.

    (…) trägt also das, was schliesslich sein untergang sein wird, in sich

    Ja. Man muß sich nur klarmachen, daß es sich dabei um eine Lebensbewegung handelt.

    (…) kulturfaschismus

    Was meinen Sie damit? Ich kann von unseren demokratischen oder scheindemokratischen Gegebenheiten keine Paralle zur Kulturbarbarei der Faschisten und Realsozialisten sehen; alleine die Grade von brutaler Gewalt dort und institutionell sublimierter hier sind qualitativ unvergleichbar. Daß bei uns jemand verschwiegen wird, ja, das gibt es oft, ist dennoch etwas prinzipiell anderes, als wenn man Leute in Lager sperrt und zu Seife verarbeitet. Ein Begriff wie „Kulturfaschismus“ birgt zumindest die Gefahr, das zu verschleiern. In diesem Punkt bin ich absolut Steins Ansicht. D a s wiederum finde ich a u c h, aber aus anderen Gründen:

    (…) es ist ein jammer, dass jene, die zu arbeiten haben, das nur im schnitt acht stunden tun und auch noch zwei tage frei haben (…) – so kommt es zu einer schwemme, der man nicht mehr herr werden kann

    Zu der kommt es, meine ich, aus anderen Gründen; aber das hat insgesamt nur noch marginal mit meiner hier diskutierten Vorlesung zu tun. Ich überspringe deshalb Ihrer und Steins Polemik und komme zu

    2. Moderne Hirnforschung

    (…) obwohl ich, vornehmlich in Herbsts Lyrik ein geradezu grässliches Epigonentum feststelle.

    Gehört hier nicht hin, ist nebenbei gefragt: Wo denn? Und: Was ist für Sie Epigonentum? War Goethe Epigone, als er die Römischen Elegien schrieb?

    (…) Kunst ist grundsätzlich narzisstisch

    Find ich unklug gewagt, sowas so rundweg zu behaupten. Sie kann narzisstisch sein, aber eine Verpflichtung besteht wohl eher nicht. Bach ist ein gutes Gegenbeispiel, Bruckner auch.

    sie entsteht durch den, der sie macht und sie ist, da kann man mir erzählen, was man gerne möchte, an den Verfasser gebunden

    Sicher. Aber der muß ja nicht unbedingt so narzisstisch sein, wie wir beide das sind.

    (…) Wie selbstverständlich geht Herbst davon aus, dass das, was er die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung nennt, dadurch bereits als eingesackt gelten kann.

    Nein, tu ich so nicht. Aber ich nehme es als ein – anders als anderes – besser begründetes, nämlich empirisch gewonnenes Theorem.

    (…) der Versuch, den Geist wie eine Maschine erfassen und erklären zu wollen

    Das ist ungenau ausgedrückt; besser wäre: in Analogie zu einer Maschine. Wobei die Maschine etwas Nachgängiges ist, ihrerseits vom Menschen erfunden. Vorgängig wären determinierte Prozesse, die im Kosmos beginnen und überhaupt erst zur Entstehung unseres Sonnensystems und damit der Erde und damit des Lebens geführt haben.

    Im Vordergrund dieser Theorie steht nämlich nichts anderes als ein materialistisches Denken.

    Nur dann, wenn Energie als eine Form der Materie begriffen würd, würde das so stimmen. Ich tendiere eher dazu, Materie als eine Form der Energie zu begreifen.

    Der Behaviorismus argumentiert im Wesentlichen mit Stimulus und Response

    Wie auch der Zahnarzt, zu dem Sie bei Schmerzen gehen und auch gehen sollten, um nicht die Vergiftung Ihres gesamten Körpers unbewehrt einzuleiten; und ist Ihr Körper vergiftet, greift das schnell, rein chemischer Zusammenhänge wegen, auch Ihr Gehirn an.

    die Moderne Hirnforschung geht da weiter und setzt den Reiz im Endeffekt noch etwas nach vorne, quasi dahin, wo noch gar kein messbarer Reiz stattfindet. Konkret: der freie Wille ist eine Illusion.

    Ja. Davon bin ich überzeugt.

    Mit welcher Selbstsicherheit die Neurologen ihren übrigens zweifelhaften Ergebnissen Nachdruck verleihen, wird deutlich, wenn sie aufgrund dieser Theorie (ich spreche hier ganz bewusst nicht von beweisen, denn es lässt sich für uns Menschen rein gar nichts, aber auch schon überhaupt nichts jemals beweisen

    Woher wissen Sie das? Sie verwenden einen Glaubenssatz. Da kann man nur nicken oder den Kopf schütteln, je nach, sagen wir, persönlicher Verfaßtheit.

    eine Änderung des Strafvollzugs fordern

    Interessanterweise tun sie das ganz ähnlich wie wir Linken (zu denen ich mal gehörte) taten, als wir durch tätige Gefängnisarbeit an einem Modell von Resozialisierung statt Strafe gearbeitet haben – und den Sinn dafür schärften, daß die meisten Insassen eine geradezu grauenvolle Kindheitsgeschichte hatten.

    Zwar bin ich ebenfalls kein Freund einer „moralischen Schuld“, doch das tut hier nichts zur Sache, es geht hier um eine gewisse Unverfrorenheit einiger Neurologen, die in etwa an die Herrschaftsansprüche der Kirche im Mittelalter erinnert.

    Das sind doch lauter behauptete Null-Sätze.

    Bei alledem wird vergessen – und das ist nun etwas, das man eine Tatsache nennen kann – dass wir nicht einmal auch nur in Ansätzen

    In Ansätzen eben schon. Es wäre ganz gut, machten Sie sich, bevor Sie solche Sachen schreiben, einfach mal ein bißchen kundig.

    begreifen, wie unser Hirn tatsächlich arbeitet. Das hören die Neurologen nicht gerne

    Verzeihung, das ist denen einfach wurscht. Ich kenne ein paar davon persönlich.

    und die Vermutung liegt nahe, dass dieses ganze Brimborium nur dazu dient, ihre Minderwertigkeit zu kaschieren.

    Ich verstehe diese wiederholten, schlecht beleumundenden Argumentationsstrukturen nicht.

    Aber es wird klar

    Wodurch? Wieder nur so eine Behauptung.

    (…), dass es dort nicht wirklich weitergehen kann, sobald man den Geist materialisieren will. (…) Der Geist, der für die Neurologie immer schon gleich dem Nervenzentrum war, das nach dem Schema konditionierter Reflexe zu funktionieren hatte (es nicht tat, aber zu tun hatte!

    Wieso „hatte“ er? Wo steht das? Woher nehmen Sie das? Tatsächlich gab es im Barock, mit der Entwicklung dessen, was wir heute moderne Medizin nennen und was uns enorme Lebenserleichterungen, die ja nachweisbar sind, bereitet, die Vorstellung des Körpers als Maschine. Diese Vorstellung wurde als Modell an die Wirklichkeit, sie messend, angelegt. Dabei kam unter anderem heraus, daß es so einfach, wie das Modell es wollte, eben n i c h t war.

    (…) Das Perverse

    Was meinen Sie mit dem Begriff „pervers“?

    folgt auf dem Fuß, nämlich wenn Hirnforscher Wolfgang Roth fordert, Menschen mit „krankem Hirn“ aufgrund neuropsychologischer Tests präventiv in Gefängnissen oder Psychiatrien wegzuschließen, obwohl sie keine Straftat begangen haben

    Das ist der praktisch-juridische Schluß aus einer noch nicht letztlich gesicherten medizinischen Position. Da es aber ein Gesetz gibt, das genau dem entgegensteht, und dieses Gesetz sich auch nicht mehr leicht aus der Welt bringen läßt, mag Herr Roth fordern, was immer er will. Ich persönlich finde die Volksmeinung sehr viel bedenklicher, die mit der Todesstrafe recht schnell bei der Hand ist, und zwar, weil nun s i e auf der Freiheit des Individuums beharrt und glaubt, jeder sei für seine Taten verantwortlich. Zu unmenschlichen Ergebnissen können Sie aufgrund beider Grundauffassungen kommen. Das spricht nicht für oder gegen eine von beiden. Der nächste „Schluß“ ist allerdings stark in seiner logischen Komik, die genau von einem, wenn jetzt auch irreversiblen, notwendigen Zusammenhang auszugehen scheint:

    Wer sich derartiges einmal auf der Zunge zergehen lässt, der erkennt nichts anderes, als ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als die Hirnforschung ihren Anfang nahm.

    (Fett von mir.) Und nach diesem „Schluß“ kommen Sie dann auch gleich wieder auf Ihren „Kulturfaschismus“ zurück:

    Wir

    Wir? Ich nicht. Göttinseidank nicht.

    hatten ähnliches schon einmal, als man noch meinte, einen potentiellen Verbrecher bereits an seinem Aussehen erkennen zu können, an der fliehenden Stirn, an den langen Fingern…(…) sondern einen schweren Rückfall in uralte Zeiten, da der Mensch auf das Gehirn reduziert wurde

    Da kann ich jetzt nur noch mit Spott reagieren: Wäre Ihnen die Leber lieber?

    Die Medizin übernimmt hier das prophetische Voraussagen

    Wo denn? „Die“ Medizin! Herr Roth ist e i n e Stimme unter Millionen Neurologen

    …menschenfeindlichen Forderungen eines Wolfgang Roth und Wolf Singer

    Da ich Singer kenne, hätte ich gerne gewußt, wo er Unmenschliches fordert. Soviel ich weiß, spricht er im Gegenteil von prinzipieller Verantwortungslosigkeit – und begründet neurochemisch. Ein treffendes Gegenargument hat er meines Wissens bis heute nicht gehört. Aus dem Determinismus singerscher Prägung, den ich teile, folgt übrigens nicht notwendigerweise, was Herr Roth, wie Sie erzählen, fordert. Sondern, wenn wir von chemisch-deterministischen Fakten wissen, hindert uns nichts daran, nach Gegenmitteln zu forschen.

    3. mikel

    eigentlich wollte ich hin, in die Uni, zumindest zur zweiten Vorlesung, obwohl es nicht in der Aula stattfand

    (fett von mir:) so liegen also die Werte

    (…), aber als ich diesen seltsamen Einlass zu U und E las, war das Thema bereits erledigt.

    Dieses ist genau das Verhalten eines Pop-Rezipienten: Der Mann soll mir das bestätigen, was ich sowieso weiß, und er soll es mir zum Genuß aufbrühen. Nö, Herr Mikel. Bleiben Sie nur weg.

    Wo man eine solche Literatur findet? Zum Beispiel wohl in Herbsts letztem Teil der “Anderswelt”-Trilogie, die kurz vor ihrem Abschluss steht.

    Nun ja, es wird einen Grund gehabt haben, daß ich zu meiner Poetik-Dozentur gerufen wurde. Auch Begley ist seiner Werke wegen gerufen worden und nicht, weil er einen besonders schönen Penis hat. Hoff ich jedenfalls.

    Es scheint um eine Art intellektuelle PR zu gehen.

    Nein, es geht um die Darstellung und Ausführung einer Poetik. Daß sie sich, wenn ihr Autor Dichter ist, auch in seinem Werk findet, ist dafür eigentlich eine Voraussetzung. – Haben Sie denn eines der Anderswelt-Bücher gelesen? Oder schließen Sie sich freudig einer Vor-Verurteilung an, wie sie Herr Groß, der n i c h t gelesen hat, so zart angedeutet in seinem Artikel unternimmt?

    4. Abermals perkampus

    Meines Wissens wurde nicht kategorisiert, was denn das eine oder das andere zu nenne sei, nirgendwo steht der Satz, dass nicht der höchste Anspruch eines Werkes auch unterhaltend sei (wer wollte sagen, Joyce, Beckett, Pynchon, Lima, Borges, selbst Schopenhauer oder Wittgenstein seien nicht unterhaltsam?)

    Das ist richtig. „Unterhaltsamkeit“ ist für mich einfach deshalb keine hilfreiche Kategorie, weil meine Oma, die Utta Danella liebte, etwas völlig anderes als unterhaltsam empfand als ich, der den Ulisses unterhaltsam findet. Deshalb wäre sie, die eine einfache Frau gewesen ist, aber nie auf die Idee gekommen, Danella für eine wirkliche Künstlerin zu halten. Im Gegenteil, sie war sehr hellsichtig: van Gogh war für sie – wie übrigens Beuys auch – ein großer Künstler, „mir gefallen die Sachen aber nicht, weil sie mich beunruhigen. Ich will keine Beunruhigung, mein Leben ist unruhig genug.“

    (…) während U das einschläfernde, beruhigende, ablenkende meint, sehe ich E als anregend, mitsprechend, auffordernd an.

    Das kommt meinen Ansichten in der Tat nah.

    5. Abermals Stein

    Dass es einen kategorischen Unterschied gibt zwischen Kunst und purer Unterhaltung, dass Wittgenstein sich sehr wohl unterscheidet von Schlager-Trallalla, das hat hier und anderswo ja niemand in Frage gestellt.

    Doch. Sie. Indem Sie meine Trennung nicht nur infrage stellen, sondern weghaben wollen.

    Meine obige Kritik richtete sich nicht gegen die Kategorisierung, sie richtete sich gegen die Kriterien, die Herbst bemüht, um die Unterscheidung zu treffen.

    Das geht aus Ihrem Text oben aber nicht hervor. Ginge auch gar nicht, da ich tatsächliche Kriterien dessen nicht angegeben habe, was Kunst sei und was pure Unterhaltung (also E und U, sie verwenden das hier plötzlich selber); im Gegenteil habe ich in meiner Vorlesung sogar gesagt, es gebe der U-Sparte zugeschlagene Werke, die ich E zuschlagen würde.

    Tatsächlich ist es bedauerlich, dass ANH selbst offenbar keine Zeit und/oder Gelegenheit gefunden hat, hier auf den Beitrag einzugehen. Aber es besteht dazu ja nun auch keinerlei Verpflichtung. So ist es nun einmal.

    Nein, es ist, wie Sie jetzt lesen können, nicht so. Ich wußte aber, die Entgegnung würde mich mehr als einen halben Tag Arbeit kosten, und den hatte ich bislang nicht davon frei. Heute war das anders.

  16. A. N. Herbst zu “Fallen im Kopf” « Turmsegler

    […] Ich freue mich sehr, dass A. N. Herbst nun doch noch Zeit gefunden hat, auf die Kritik zu seiner 1. Heidelberger Vorlesung einzugehen. Er tut dies ausführlich und widmet sich auch den bereits aufgelaufenen Kommentaren […]

  17. ksklein

    @ ANH:
    Toller Beitrag!

  18. perkampus

    Es ist schon wahr. Ziehen wir die Dinge etwas enger. Ich werde jetzt von zwei Begriffen einfach Abschied nehmen. Der eine ist der Kulturfaschismus, denn das müsste ich in der Tat erklären und selbst dann befürchte ich, wäre es nur halbgar in den Ansichten, weil dieses Wort tatsächlich die Absicht trägt, ein Auswurf zu sein. Das Wort Arschloch hat auch nichts sachliches, aber es klingt hübsch.

    Der zweite Begriff ist das Epigonale. Davon lasse ich aber nicht etwa ab, weil ich dazu nichts zu sagen hätte, sondern weil es gerade in der Auffassung von Lyrik zu keinem Konsens kommen könnte. Das ist hier an dieser Stelle mehr eine Geschmacksfrage und die muss nicht diskutiert werden.

    Das aber, weil es um das Hauptthema geht, dem meines Erachtens die Auffassung von Lyrik entspringt (wobei ich nicht einmal behaupten will, dass Ihre Gedichte gleichzeitig Ihre Auffassung über Gedichte widerspiegeln): Es gibt in dem, was Sie sagen (in Ihrer Vorlesung sagen) sehr viel Wichtiges, Notwendiges und Gutes. Ich sehe darin sogar Maßgebliches. Der einzige Punkt, bei dem ich an eine Mauer rassle, ist die Auffassung, der Geist funktioniere wie eine Maschine. Damit kommen wir auch der Diskrepanz zwischen Psychologie und Neurologie nahe, die zwar in vielen Punkten zusammenarbeiten, aber letztlich doch nie einer Meinung sein können. Es ist natürlich für jedermann ersichtlich, dass geistige Tätigkeiten ihre Spuren im Körper hinterlassen, diese also chemisch aufzuspüren sind, was aber nicht beweist, dass der Geist ein Zustand des Körpers selbst ist.

    Die Maschine macht meiner Meinung nach nur dann etwas her, wenn es so etwas wie psychische Atome gäbe, oder ein psychologisches datum. Das entscheidende Charakteristikum des Geistes ist aber doch die Struktur seiner Prozesse, bis hinunter auf die physiologische Ebene, so dass ein isolierbares Atom gar nicht auftreten kann. Natürlich suchen die Neurologen nicht nach einem Atom, aber es geht um die Eigendynamik des Geistes, die bei allen mentalen Prozessen eine wichtige Rolle spielen. Jede kausal argumentierte Theorie geht dabei am Wesentlichen vorbei, denn es handelt sich eben nicht um einen mechanischen sondern um einen biologischen Vorgang. Ohne die Annahme von einer Eigengesetzlichkeit sind Phänomene wie Wert, Bedeutung, Sinn, Verstehen, überhaupt nicht zugänglich. Ohne sie löst sich eben alles im Grundschema Reiz und mechanisch vorgestellte Abläufe im Nervensystem, Wirkung, auf. Das Zahnarztmodell überzeugt mich da nicht, denn das hat mit dem Geist, von dem wir doch hoffentlich sprechen, nicht das geringste zu tun, auch wenn es ein körperliches Ereignis ist, das mit ihm selbstredend in Verbindung steht.

    Ich sehe hier das Problem, dass durch eine naturwissenschaftliche Verifikation an die Stelle der qualitativen Vielfalt der Phänomene die Einfalt quantitativer Unterscheidungen tritt. Das sehe ich zumindest als das Grundproblem – und das ist so alt wie die Hirnforschung selbst, deshalb auch kaum ein Nullsatz, vor allem dann nicht, wenn man die rigorosen Forderung besagter Neurologen sieht. Zwar habe ich mich nur auf Roth und Singer bezogen (ich wüsste gegenwärtig nicht, dass letztgenannter sich von Roth distanziert hätte, so weit ich weiß, doch eher im Gegenteil), aber ich glaube nicht, dass dies ein Aufbruch nur der beiden war, wenn da nicht bereits eine Lobby dahinter stünde.)

    Dass Sie für mich hoffen, ich könnte mich „etwas kundig“ machen ist völlig in Ordnung. Tatsächlich befolge ich diesen Rat nun schon seit etwa zwanzig Jahren – und es bringt mich keinen Millimeter davon ab, was ich sagte: Bis zum heutigen Tag werden geistige Prozesse nicht verstanden – ich opfere hier das Wörtchen „ansatzweise“ gerne. Da lässt sich mit unseren Denkmodellen nichts beweisen, allenfalls – eben, Sie markieren es oft genug – behaupten.

    Alles in allem bleibt das eine Glaubensfrage, wie so vieles. Das schmälert für mich aber keineswegs die herausragende Arbeit, die Sie vor allem im zweiten Part Ihrer Vorlesung geleistet haben. Glauben darf man schließlich, was man will. Noch.

  19. ANH

    Hier liegt Ihr denkerischer Widerspruch:

    Jede kausal argumentierte Theorie geht dabei am Wesentlichen vorbei, denn es handelt sich eben nicht um einen mechanischen sondern um einen biologischen Vorgang.

    Woher nehmen Sie die Gewißheit, biologische Vorgänge seien n i c h t kausale? Wäre dem so, es ließe sich innerhalb der Biologie nach dem Kalkül des logischen Schließens nicht schließen, wir könnten keine Experimente machen, die zu praktikablen Ergebnissen führen usw. Die aber werden mit Erfolg gemacht, gerade in der Biologie. Sie werden mir sicher zugestehen, wenn ich die Medizin als eine Teilmenge der Biologie verstehe. Es würde aber auch Agrarwirtschaft nicht funktionieren, wir könnten keine Pflanzen züchten, ja sogar Pfropfung – ein ganz altes Mittel biologischer Verfeinerung der Frucht – wäre grundlos. Kurz: Wäre es so, wie Sie schreiben, stünden wir heute noch auf einer Stufe weit unterhalb der Steinzeit. Das ist aber nicht der Fall – auch dann nicht, wenn man >>>> mit Kästner meint, letztlich, psychologisch, sei das d o c h so. Es würde einfach ein Strich durch unsere gesamte Zivilisation und Zivilisationsgeschichte gemacht, und man landete bei den >>>> Kreationisten.

  20. Benjamin Stein

    @ANH zum obigen Kommentar

    Für Ihre ausführliche Reaktion habe ich Ihnen eigens gedankt. Ganz ohne Widerspruch kann ich Ihre Erwiderung hier hinwiederum auch nicht stehen lassen. Ihre Methode der Entgegnung ist wirkungsvoll, sie ist jedoch nicht ganz lauter – aus zwei Gründen.

    Erstens zerlegen Sie die Argumentation in Halbsätze, die Sie dann „attackieren“. Zweitens fügen Sie Ihrer Argumentation in der Erwiderung Elemente hinzu, die sich so in der Vorlesung eben nicht fanden.

    Aber auch hier: der Reihe nach.

    … ad acta gelegte Begrifflichkeit von E und U …

    In Ihrer Erwiderung bestätigen Sie doch genau diese Beobachtung. Ihre Einlassung in der Vorlesung nimmt doch wohl gerade aus diesem Grund die Diskussion um diese Begrifflichkeit wieder auf.

    Ich möchte nochmals betonen, dass ich sehr wohl einen Unterschied sehe zwischen Utta Danella und Joyce. Ich habe auch nichts gegen eine Kategorisierung. Meine Kritik richtete sich gegen Ihren Kriterienkatalog, gegen die Betonung des Formellen, der Form als Kriterium. Eben jenen Kriterienkatalog erweitern Sie nun in Ihrer Erwiderung um Elemente, die sich in der Vorlesung nicht fanden. Sie gehen in ihr eben weg vom Formellen und kommen auf Kriterien, bei denen ich viel eher folgen kann.

    … für ein E vorgemachten U …

    Sie führen in Ihrer Vorlesung Warhol an. Und räumen ein, dass es einen Drift geben könne von U nach E, wie es bei der Pop-Art der Fall gewesen sei. Wenn die oben nun von Ihnen angelegten Kriterien an E ziehen sollen, dann ist ein solcher Drift schlicht undenkbar. Wie sollte aus dem Schlager eine Sonate werden? Aus dem Vorgekauten ein originelles Menü? Entweder war es E, als es entstand, oder es war nicht E. Was hätte denn nachträglich das U zum E gemacht? Die Stimme des (Kunst-)Marktes? (Das wird sicher nicht Ihre Intention gewesen sein.)

    Was Ihren seit dreissig Jahren umgesetzten Lebensentwurf angeht: Diesen Fusswurf mir gegenüber wenden Sie nicht an, obwohl ich Ihnen die Steilvorlage liefere… Denn es liesse sich ebenso über meinen Beitrag sagen, dass er mit den geäusserten Meinungen meinen Lebensentwurf zu legitimieren versucht. Diese „Falle im Kopf“ ist mir unterdessen bewusst geworden. Und ich räume diesen Umstand flugs selbst an dieser Stelle ein.

    Ist doch wurscht, ob das jemand nachfühlt. Er soll arbeiten und nicht wimmern.

    Oha! Wie wenig Empathie. Ich versuche, das zu verstehen, was mir schwer fällt, weil ich Künstler nie als Kunst-Maschinen sehen konnte und kann. Aber freilich: wenn in Hirn (und dessen Körperanhang) alles mechanisch zugeht, dann vielleicht auch in der Kunst-Produktion.

    Sie halten Form für Design.

    Da legen sie den Finger in der Tat auf eine faule Argumentation in meiner Kritik. Tatsächlich halte ich Form nicht für Design. Und damit ist der Vergleich zu den Designs der Automobilbranche stark beschädigt. An diesem Punkt würde ich jedoch gern weiter denken. Was genau ist ein Sonett mehr als Design? Offene Frage an dieser Stelle.

    „Ich aber sage Euch…“

    Dass ich mitunter den Eindruck 8.000 Jahre alten Holzes mache, ist eine mir bekannte Schwäche, die unter ständiger Beobachtung ist. Aber wenn Ihr Bonmot mal ausgeklungen und das Gelächter verhallt ist, dann werden Sie vielleicht doch auch für möglich halten, dass die Bemühung bestimmter alter Formen und Maße doch etwas von Mode haben könnte. Nein?

    Was s i n d Emotionen? Nicht chemische Prozesse an ihrem Grund?

    Wenn das so ist, werden dann nicht Formelwerke, Reaktionsgleichungen und Computerprogramme die Lyrik der Zukunft sein?! Dichtung hat nach meinem Empfinden immer gerade dem „Unerklärlichen“ zwischen den Atomen (um in der Begrifflichkeit zu bleiben) nachgespürt.

    Dass ich – schlussendlich – in einer solchen Kritik, eine Meinung äussere, das werden Sie mir nicht ernstlich vorwerfen wollen. Aber gerade während ich dies schreibe, glaube ich zu verstehen, was Sie mit kyberrealism meinen: Wenn es in uns nur kausal und quasi mechanisch zugeht, dann ist Kunst auch mess- und produzierbar nach striktem Regelwerk. Dann können wir bald Lehrbücher kaufen, wie das „perfekte Gedicht“ zu schreiben ist, und man muss früher oder später einen Phd in Dichtungswissenschaften vorweisen, wenn man publizieren will.

    Oder verstehe ich das alles ganz und gar miss?

  21. ANH

    ANTWORT FÜR BENJAMIN STEIN, 2.

    Erstens zerlegen Sie die Argumentation in Halbsätze, die Sie dann „attackieren“.

    Das Verfahren stammt von Karl Kraus und hat viel Erkenntnisgewinn für sich. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß Sie das bei mir ebenfalls so halten.

    Zweitens fügen Sie Ihrer Argumentation in der Erwiderung Elemente hinzu, die sich so in der Vorlesung eben nicht fanden.

    Welche? Und welche, von denen ich nicht voraussetzen kann, daß Leser sie automatisch mitdenken?

    wieder auf.

    Ich habe geschrieben: wieder darauf b e h a r r e n. Selbstverständlich weiß ich, daß es gängig geworden ist, die Trennung nicht mehr zu akzeptieren. Gängigkeit ist an sich ein Gegenstand meines permanenten Mißtrauens. Bekanntlich schließe ich darin auch Tabus ein.

    Meine Kritik richtete sich gegen Ihren Kriterienkatalog, gegen die Betonung des Formellen, der Form als Kriterium.

    Das ist kein Katalog, sondern eine einzige Bestimmung, die ich in der Tat für eine, wenn nicht d i e wesentliche von Kunstwerken halte.

    Eben jenen Kriterienkatalog

    Noch einmal: Welchen?

    erweitern Sie nun in Ihrer Erwiderung um Elemente, die sich in der Vorlesung nicht fanden. Sie gehen in ihr eben weg vom Formellen und kommen auf Kriterien, bei denen ich viel eher folgen kann.

    Welche?

    … Warhol …

    war nie Pop, wohl aber Pop-A r t. Dabei gibt es manches, das zu Pop w u r d e, etwa das Tischbein-Nachbild, auch die Monroe. Auf sowas hab ich mich aber nicht bezogen, sondern ganz bewußt einen entgrenzenden Ansatz hergenommen, nämlich Warhols Dracula-Film. Umgekehrt argumentiere ich auch dahin, daß vieles an Mozart Pop ist und geblieben ist; anderes eben nicht, etwa die moll-Klavierkonzerte.

    (…) Und räumen ein, dass es einen Drift geben könne von U nach E, wie es bei der Pop-Art der Fall gewesen sei.

    Wie gesagt: Pop-A r t ist nicht notwendigerweise Pop. Daß es eine solche Drift gibt, schrieb ich bereits in der Ersten Vorlesung direkt.

    Wenn die oben nun von Ihnen angelegten Kriterien an E ziehen sollen, dann ist ein solcher Drift schlicht undenkbar.

    Das ist unrichtig, wie die Geschichte des Jazz‘ zeigt: aus dem Pop kann sich sehr wohl E entwickeln; etwa wäre der nicht mehr auf harmonischer Basis fußende Free Jazz letztlich undenkbar ohne den vorhergegangenen Gospel, ja ohne New Orleans; übrigens auch ohne den Rock, von dem ebenfalls einiges eher E als U ist. Ganz ebenso hat sich aus Volksliedern das Kunstlied entwickelt; es gab sogar Bewegungen, hoch-E-kunstvolle ins Volkslied zurück, wie wir das aus den Wunderhorn-Liedern kennen.

    Wie sollte aus dem Schlager eine Sonate werden?

    Indem jemand herkommt und den Schlager verwendet und neu und überhaupt f o r m t. Ich tu sowas unausgesetzt, indem ich Genre-Teile in meine Roman-Arbeit integriere, sie gleichsam aufsauge und völlig anders, als sie intendiert waren, in Bewegung setze. Jede Montage (Collage) arbeitet so.

    Aus dem Vorgekauten ein originelles Menü?

    Die Grundbausteine irdischen Lebens sind begrenzt und identisch, ein paar Atomverbindungen, mehr nicht. Der Formenkanon, der sich daraus entwickelt hat und immer noch weiterentwickelt, ist nahezu unbegrenzt.

    Entweder war es E, als es entstand, oder es war nicht E. Was hätte denn nachträglich das U zum E gemacht?

    Das habe ich gerade angedeutet.

    Die Stimme des (Kunst-)Marktes? (Das wird sicher nicht Ihre Intention gewesen sein.)

    Auch die kann eine große Rolle spielen. Benn hat sowas zum Beispiel gemeint, und hatte Gründe.

    Was Ihren seit dreissig Jahren umgesetzten Lebensentwurf angeht: Diesen Fusswurf mir gegenüber wenden Sie nicht an, obwohl ich Ihnen die Steilvorlage liefere…

    Weshalb sollte ich auch? Ich finde persönliche Umstände prinzipiell uninteressant; mich interessieren immer nur Wirkungen.

    Denn es liesse sich ebenso über meinen Beitrag sagen, dass er mit den geäusserten Meinungen meinen Lebensentwurf zu legitimieren versucht.

    Jesses, lassen Sie das doch einfach mal als Marginalie weg. Die Marginalie ist persönlich wichtig, ja, aus narzisstischen Günden – aber wer fragt in 200 Jahren, ob jemand ein Werk nicht schaffen konnte, weil er Kinder zu ernähren hatte? Man fragt das mit Recht nicht. Entweder er schafft, oder er schafft nicht.

    Wie wenig Empathie.

    Mitnichten. Sogar v i e l Empathie. Aber sie hat in einer Auseinandersetzung über Kunst (für mich) nichts verloren. Das hängt damit zusammen, daß es für mich auch keine Entschuldigung ist, wenn ich krank bin und deshalb nicht schreiben kann. Ich schreibe nicht. Oder ich schreibe. Das bleibt.

    (…) wenn in Hirn (und dessen Körperanhang) alles mechanisch zugeht, dann vielleicht auch in der Kunst-Produktion.

    Ich habe niemals von „Mechanik“ gesprochen; dieser Terminus kam erst über Perkampus herein. Ich spreche von chemischer Determination, das geht vor allem auf die Biologie. Ich spreche von vernetzten Systemen, die ich unterdessen längst matrisch begreife. Weshalb ich von einer Möglichkeitenpoetik sprechen kann, die noch in ihr Wirkungsgefüge dasjenige als möglicherweise bestimmend mit hineinnimmt, für das es ganz hoch wahrscheinlich gar keinen Existenzgrund gibt.

    (…) Was genau ist ein Sonett mehr als Design?

    Ja! Genau! D a s sind die Fragen. Sofort dabei. (Ich weiß auch keine definitive Antwort bislang, keine jedenfalls, die handlich, d.h. praktikabel wäre.

    (…) dann werden Sie vielleicht doch auch für möglich halten, dass die Bemühung bestimmter alter Formen und Maße doch etwas von Mode haben könnte.

    Unter Umständen schon. Zieht man aber die historischen Zeitläufte der Poesie zusammen, schwindet das Modische schnell.

    (…) Wenn das so ist, werden dann nicht Formelwerke, Reaktionsgleichungen und Computerprogramme die Lyrik der Zukunft sein?!

    Aber nein. Ich verstehe auch die Angst davor nicht so ganz. Es gibt meines Wissens nicht ein Gedicht Max Benses, das seine Zeit überlebt hätte oder wieder auftauchen und d a n n wesenhaft überleben würde. Das mag eine Frage der Differenzierung mathematisch-poetischer Modelle sein, das mag aber auch nicht eine solche Frage sein. Ich weiß es nicht. Spätestens, wenn mir ein gelungenes Computer-Gedicht einmal unterkäme, wäre meine Neugier ausgesprochen geweckt, aber auf gar keinen Fall meine Abwehr. Eine solche Abwehr ist indessen bei vielen, wenn nicht den meisten komischerweise schon da, obwohl es ein solches Gedicht noch gar nicht gibt (jedenfalls nicht meines Wissens). Diesen Umstand finde ich verdächtig. Ich finde ihn aber auch interessant, weil er den Instinkt verrät, daß uns da etwas gefährden k ö n n t e. Wären wir so sicher in unseren Meinungen, wie wir tun, könnten wir doch ganz getrost sagen: Na, dann zeigt uns das mal.

    Dichtung hat nach meinem Empfinden immer gerade dem “Unerklärlichen” zwischen den Atomen (um in der Begrifflichkeit zu bleiben) nachgespürt.

    Sicher, oft. Aber auch, um es zu fassen, was schon im W o r t ein Begreifen ist.

    (…) glaube ich zu verstehen, was Sie mit kyberrealism meinen: Wenn es in uns nur kausal und quasi mechanisch zugeht, dann ist Kunst auch mess- und produzierbar nach striktem Regelwerk.

    Das haben Sie grade m i ßverstanden. Was ich tatsächlich meine, habe ich versucht – und versuche ich weiter – in meinen Vorlesungen theoretisch zu fixieren, wie auch immer wieder >>>> in Der Dschungel, >>>> anderen Vorträgen und – das allem voran – in meinem literarischen Werk.

    Dann können wir bald Lehrbücher kaufen, wie das “perfekte Gedicht” zu schreiben ist, und man muss früher oder später einen Phd in Dichtungswissenschaften vorweisen, wenn man publizieren will.

    Ich verstehe auch diese Angst nicht. Mir persönlich ist das sowas von schnuppe, ob irgend ein Iddi auf so eine Idee verfällt; es hat doch schon etwas Lachhaftes, daß die Leipziger einen Abschluß machen, etwas irre Komisches auch, Hilfloses, restlos Absurdes, das nur da einen konkreten Grund hat, wo es dazu dient, ein paar wenigen Schriftstellern, die lehren, die Butter zu sichern. Mehr ist da doch nicht dran. Womit ich jetzt nicht die Inhalte meine; die können für dort Studierende ausgesprochen wichtig sein. Aber der Schein hinterher, der ist – Schein.

  22. perkampus

    @ANH

    Das verstehen Sie jetzt doch etwas miss. Mit den Kreationisten habe ich vermutlich genausowenig zu tun, wie Sie selbst. Ich bin nie ein religiöser Mensch gewesen, doch aber ein spiritueller – in einem Sinne jedoch, bei dem den meisten „spirituellen“ Menschen die Haare zu berge stehen würden. Dass die Wissenschaften alle der Reihe nach… Biologen und Physiker, mittlerweile an einem Punkt angelangt sind, da sie etwas völlig geistiges nicht mehr ausschließen können, mag wohl zu dieser Kreationistenwelle geführt haben. Man kann das aber auch ganz anders betrachten, ohne gleich eine literarische Gottheit zu Rate ziehen zu müssen, denn meine Kritik handelt lediglich davon, alles unter mechanischen Gesichtspunkten sehen zu wollen. Aber da mag Ihnen ihr Tagesanzeiger heute etwas dazu geliefert haben. Es ist doch etwas zu einfach, zu sagen, wenn man der Theorie (denn ich betone es nochmal: da ist nichts etwa bewiesen) der modernen Hirnforschung nicht folgt, liefe man automatisch Gefahr, ein religiös verblendeter zu sein.

    Im Endeffekt ist es aber eher umgekehrt. So ist die Getrenntheit von Objekten, die wir beobachten nur eine Illusion von der „begrifflich erklärbaren“ Ordnung. Aus der Quantenphysik wissen wir, dass dieser Einfluss, den wir scheinbar als Beobachter auf das Beobachtete haben, nicht automatisch heißt, dass eine kausale Interaktion dahintersteckt. Wenn also Quantenpartikel Projektionen einer tieferen, nichtlokalen Realität sind, dann würde uns ein solcher Sachverhalt dazu zwingen, viele unserer Vorstellungen von der physischen Welt neu zu überdenken. Nehmen wir doch einmal an, alle Objekte, die wir kennen, bestünden aus Quanten, angefangen bei stinknormalen Bäumen bis hin zu Quasaren, so bedeutet dies, dass alle Dinge im Universum in einer unendlich wechselseitigen Beziehung zueinanderstehen. Wenn dieser Standpunkt richtig ist, würde William Blakes Ratschlag, eine Welt in einem Sandkorn zu entdecken, keine Metapher mehr bleiben. Es würde Konsequenzen haben. Wir leben seit Jahrhunderten in der Illusion, dass das Universum eine gigantische Maschine ist, die wir verstehen können, wenn wir sie in ihre Einzelteile zerlegen. Aber wenn das Universum in einer unendlichen Wechselbeziehung steht, gibt es bestimmte Phänomene, bei denen dieser Ansatz nicht mehr gültig ist.

    David Bohm zB. bot an, das Universum als ein gigantisches, multidimensionales Hologramm zu sehen. Dem folge ich zunächst einmal, da mir klar wird, dass eine darin verborgene holographische Ordnung weitreichende Auswirkungen auf viele unserer Vorstellungen von Realität haben kann. In einem holographischen Universum kann man beispielsweise Raum und Zeit nicht mehr als Grundprinzipien betrachten. Ich bemerke bei Ihnen doch laufend Tendenzen, den Realitätsbegriff selbst anders zu betrachten. Wie sie da ausgerechnet auf die Hirnforschung zurückfallen können, ist mir ein Rätsel. Und das, so scheint es, nur um einen Anhaltspunkt dafür zu haben, dass wir „nicht frei“ seien. Diese Wahrscheinlichkeit kann man, so meine ich, klüger und schlüssiger herbeiführen. Darum geht es.

    Kommen wir aber noch einmal auf das ungelöste Rätsel, das Geist-Körper-Problem zurück. Da lautet die Frage nach wie vor: Gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Geist und Körper? Im Endeffekt ist das nur eine anders lautende Frage von: „Was ist Bewusstsein?“ Ist Bewusstsein einfach die Summe dessen, was in unserem Gehirn vor sich geht oder steckt da doch etwas mehr dahinter? (Und diese Frage führt eben nicht bereits zum Kreationismus!!)

    Gemäß dem konventionellen biologischen Verständnis enthält ein Samen in seinem Inneren nur sehr wenig von der tatsächlich materiellen Substanz, die schließlich in der Pflanze enthalten ist. Der größte Teil stammt aus dem Erdboden, der Luft, dem Sonnenlicht. Modernerweise nennen wir die Information heute DANN und diese Information ist es, die die äußere Umgebung dazu bringt, eine entsprechende Pflanze hervorzuzaubern. Durch den Austausch von Materie und Energie wird die Pflanze dann am Leben erhalten und vergeht schließlich wieder. Jetzt stellt sich aber die Frage, an welchem Punkt wir sagen können, was lebendig ist und was nicht mehr lebendig ist. Ein Kohlendioxid wird ja nicht plötzlich lebendig, wenn es in ein Blatt eindringt. Genausowenig stirbt ein Sauerstoffmolekül dann, wenn es das Blatt wieder abgibt. Allein dieser Mangel an klar unterscheidbaren Grenzen zeigt doch bereits die Unzulänglichkeit eines streng mechanistischen Ansatzes. Anstatt das Universum in seine Teile aufzuspalten, wäre es besser, alles als ein ungeteiltes Ganzes zu betrachten, als eine Totalität, in der sich lebendige und nicht lebendige Dinge ständig manifestieren.

    Die Realität, da werden Sie mir zustimmen, ist ein saumloses Netz und es sind nur unsere eigenen Idiosynkrasien, die dazu führen, dass wir sie in so willkürliche Kategorien wie Geist und Körper unterteilen. Es gibt keinen Dualismus, da es sich in beiden Fällen um sekundäre Erscheinungen und abgeleitete Kategorien handelt.

    Das alles ist natürlich ein unmöglich zu bewältigender Stoff und hier werden Missverständnisse nicht nur provoziert, sondern geradezu geboren.

  23. Dezember, Neunzehn, Sieben « P.-’s Veranda

    […] Die Diskussion mit Alban Nikolai Herbst im Turmsegler. […]

  24. perkampus

    NACHTRAG

    Ich spreche von chemischer Determination, das geht vor allem auf die Biologie. Ich spreche von vernetzten Systemen, die ich unterdessen längst matrisch begreife.

    Diesen Satz von ANH habe ich bei den Ausführungen noch nicht bedacht.

  25. Benjamin Stein

    Welche zusätzlichen Aspekte Sie im Kommentar brachten?

    Gossip-Schlagzeilen und Harry Potter haben deshalb Erfolg, weil sie (bewußt oder unbewußt) auf Erwartungen zugeschnitten sind, die sie weder transzendieren können noch wollen. Di Crescenzo hat für den Kitsch den Satz geprägt: „Kitsch ist Abwesenheit von Scheiße“. Genau das trifft auf Kunst nicht zu. Vielmehr konfrontiert sie immer wieder auch mit Unangenehmem, das ich in meiner Vorlesung – aus der Perspektive der Produktion – „Ausgegrabenes“ genannt habe. Es ist nachweisbar, daß U-Stücke genau so etwas vermeiden, weil sie nicht riskieren können und ihrer eigenen Marktgesetzlichkeit halber auch nicht dürfen, Unwillen im Rezipienten zu erregen. Ob es das tut oder nicht, ist einem Kunstwerk aber schnuppe.

    Hier ist keine Rede mehr von der Hülle (Form). Hier führen wir nun eine am Inhaltlichen orientierte Debatte. Und da folge ich Ihnen umgehend mit grösstem Interesse.

    Dabei gibt es manches, das zu Pop w u r d e, etwa das Tischbein-Nachbild, auch die Monroe.

    In der Vorlesung heisst es:

    Selbstverständlich sind auch aus der Pop-Kultur Kunstwerke hervorgegangen; die aber würde ich unterdessen den E-Künsten zurechnen.

    Es ist also nicht von einem Drift von E nach U, sondern umgekehrt von U nach E die Rede. Darauf bezog ich mich im letzten Kommentar mit der Bemerkung, die wäre unter Berücksichtigung Ihrer Argumentation nicht denkbar.

    Das ist unrichtig, wie die Geschichte des Jazz’ zeigt: aus dem Pop kann sich sehr wohl E entwickeln; etwa wäre der nicht mehr auf harmonischer Basis fußende Free Jazz letztlich undenkbar ohne den vorhergegangenen Gospel, ja ohne New Orleans…

    Dann besteht ein grundlegendes Missverständnis über die Intention der „Drift“-Bemerkung in der Vorlesung. Ich bezweifelte die Möglichkeit eines Drifts betreffs ein und desselben Werks, bspw. von Warhols Monroe. Entweder ist dieses Bild E oder U. Sollte da was „driften“, ist etwas faul an der Kategorisierung. Wenn Sie freilich solche Prozesse der Inspiration meinen, bin ich ja sofort bei Ihnen. Selbstverständlich geschieht das permanent.

    Auch die [Stimme des (Kunst-)Marktes, Anm.] kann eine große Rolle spielen.

    Ganz gefährlich! Torpedieren Sie nicht Ihre exemplarische Abwatschung des „blöden“ Marktes. Ist der blöd, darf er nicht interessieren.

    Ich habe niemals von „Mechanik“ gesprochen; dieser Terminus kam erst über Perkampus herein. Ich spreche von chemischer Determination, das geht vor allem auf die Biologie.

    Ich sehe da keinen Unterschied in der Konsequenz des Arguments, also: wohin es uns führt. Determiniertheit, Steuerbarkeit, es kommt nur auf rechte Mischungsverhältnis von Enzymen an. Der Apfel fällt nicht von unten nach oben. Entzauberung der Dichtung, der Kunst überhaupt. Gerade im Pop wird so gearbeitet, werden die „wirksamsten“ Ingredenzien immer wieder neu verschüttelt. Ich finde das kalt, unmenschlich. Aber damit steige ich wohl endgültig aus dem Diskurs aus und komme ganz ins eigene Persönliche.

    Was genau ist ein Sonett mehr als Design?

    Also merken wir uns diese Frage doch einmal und gehen wir ihr nach, wenn sich der Rauch verzogen hat.

    (…) Wenn das so ist, werden dann nicht Formelwerke, Reaktionsgleichungen und Computerprogramme die Lyrik der Zukunft sein?!

    Wenn ich das schreibe, äussere ich damit keine Angst vor computergenerierten Gedichten! Es wird keine Gedichte geben. Liebe ist ein Hormon-Enzym-Coctail – Konsequenz des ganzen oben Argumentierten. Wollte man darüber versgemässe Worte verlieren? Wenn aber doch, dann muss da noch etwas anderes sein als nur Chemie. Oder nicht?

    Und in den Creative-Writing-Kursen werden Mischungsverhältnisse von Molekülen und Mischungstechniken erlernt. Ohne Zauber – wenn wir den wegdiskutiert haben – kommen wir dorthin.

  26. schein

    Der Form halber…

    Ich möchte auf den kontrovers diskutierten Begriff der ‚Form‘ eingehen und tue dies mit einem Zitat aus Adornos ‚Ästhetik‘, Adorno hat von der Ästhetik allgemein gefordert, sie habe Reflexion künstlerischer Erfahrung zu sein. Um diese Forderung einlösen zu können, ist ‚die Beziehung auf die traditionellen Werte‘ geradezu unumgänglich.

    weil allein die Reflexion jener Kategorien es erlaubt, die künstlerische Erfahrung der Theorie zuzubringen. In der Veränderung der Kategorien, die solche Reflexion ausdrückt und bewirkt, dringt die g e s c h i c h t l i c h e Erfahrung in die Theorie ein (…) Von der aktuellen künstlerische Erfahrung her (…) legitimiert sich der Rekurs auf die traditionellen Kategorien, die in der gegenwärtigen Produktion nicht verschwinden sondern noch in ihrer Negation wiederkehren: Erfahrung terminiert in Ästhetik: sie erhebt zu Konsequenz und Bewusstsein, was in den Kunstwerken vermischt, inkonsequent, im Einzelfall unzulänglich sich zuträgt.

    Unter diesem Aspekt handelt auch nichtidealistische Ästhetik von ‚Ideen‘.

    Das im eigentlichen Sinne spannende an ästhetischen Fragestellungen ist für mich genau dieser Punkt, wo künstlerische Erfahrung in Erfahrung schlechthin umschlägt – wo also ‚im Leben die Kunst zu lernen sei‘ … Wären diese Erfahrungen anders als durch die Kunst zu gewinnen, wir bräuchten diese nicht!

    Dabei ist die Frage der ‚Form‘ von entscheidender Bedeutung:

    Form ist die wie immer auch antagonistische und durchbrochene Stimmigkeit der Artefakte, durch die ein jedes, das gelang, vom bloß Seienden sich unterscheidet.

    ‚Form‘ ist demnach tatsächlich eine unique proposition der Kunst, wobei sie allerdings alles das, was an ihr selling ist, dem Warenkreislauf erst entwendet haben muss, um ihm schließlich – qua Form – entgehen zu können!

  27. Das Sonett als Förmchen « Turmsegler

    […] In der die letzten beiden Tage hier hitzig geführten Debatte um A. N. Herbsts 1. Poetikvorlesung und meine Kritik schrieb A. N. Herbst in seinem Kommentar: Sie halten Form für Design. Ein […]

  28. ANH

    @perkampus

    Ich bin mit sehr vielem, was Sie schreiben, sehr einverstanden; anderes geht aus den meisten meiner Arbeiten und auch aus der Vorlesung eigentlich nicht hervor. Nur, offenbar anders als Sie, bin ich der Meinung, selbst eine holografische Vorstellung des Universums schließt nicht Kausalität aus – allerdings ist Kausalität eben weniger mechanisch zu verstehen (da fiel sie den Menschen bloß zum ersten Mal auf, in dem meachnischen Weltverständnis, nämlich als unumkehrbarer Wirk-Zusammenhang) als eher über das, was bei Friedrich Cramer „Wechselwirkung“ heißt. Ich sehe und erlebe und spüre elektro-chemische, meinethalben können Sie auch sagen: energetische Matrices. Wobei ich dieses „energetisch“ deshalb etwas scheue, weil es religiösen Behauptungszusammenhängen Tür und Tor öffnet und gleich von vornherein eine eigentliche Zugänglichkeit durchstreicht. Da fällt dann immer schnell der Satz: „Das werden wir sowieso nie begreifen.“ Es stand Prometheus dagegen auf, in dessen Rebellionsfolgen ich mich aufgehoben und verstanden fühle und wogegen ich setze: Indem wir das sagen, s e t z e n wir, daß wir nicht begreifen. Ich kann es auch s o sagen: Gäbe es Gott, gehörte ich zu seinen erbittertsten Feinden. Ich finde eine solche Position nämlich auch politisch problematisch. Womit ich bei den Kreationisten wäre, von denen ich >>>> gestern, aufgrund eines Zeitungsartikels, schrieb. (Da ich – das ist jetzt persönlich gesagt – an Gott aber n i c h t glaube, erlaubt mir das, ihn als eine Spielform zu verwenden, aus der sich d a n n ebenfalls Erkenntnis und sehr viel Lustfunken schlagen lassen, etwa im Genuß religiös motivierter Künste; Musik; Malerei.) – Das ist das eine.

    Das andere sind die Relationen unserer Erfahrung. Erkenntnisse aus der Quantenphysik (die sich überdies nach wie vor nicht mit den anderen, für normal-relative Verhältnisse praktikabel geltenden Erkenntnissen in Übereinstimmung bringen lassen; deshalb sucht Hawkins ja so nach der „Weltformel“ – und steht damit eigenartig neben >>>> Stockhausen) sind nicht auf die wirkenden Lebenswelten übertragbar; kein Auto führe (bislang) mit ihnen, keine Agrarwirtschaft wäre möglich. Aber die Leute wollen essen, und zwar mit allem Lebensrecht. Und sie wollen geheilt werden, wenn sie krank sind. Dazu verhilft ihnen eine Medizin, die grundsätzlich kausale Zusammenhänge braucht, wenn sie denn handlungsfähig sein will. Unsere Medizin ist heute handlungsfähiger als jemals zuvor, auch und gerade die Psychiatrie, und zwar eben wegen ihrer Erfahrung kausaler Zusammenhänge. Kausal bedeutet aber eben nicht mono-kausal, Organik ist nicht Mechanik, aber auch Organik verhält sich nach kausalen Zusammenhängen, nur daß Sie eben nicht alleine eine oder zwei Bestimmungen haben, sondern möglicherweise Millionen: N e t z e also. Es sind mehrwertige Zusammenhänge, deren Elemente, um zu wirken, notwendig u n d hinreichend da sein müssen. Aber selbst dieser Begriff scheint mir noch viel zu kurz zu sein. Doch was ich mit Kybernetischem Realismus im Auge habe, zielt in genau diese Richtung. Deshalb mein Begriff von der Möglichkeitenpoetik.

  29. ANH

    @Benjamin Stein

    Dieser Schluß ist mir logisch nicht nachvollziehbar:

    Ich: Selbstverständlich sind auch aus der Pop-Kultur Kunstwerke hervorgegangen; die aber würde ich unterdessen den E-Künsten zurechnen.

    Darauf Sie: Es ist also nicht von einem Drift von E nach U, sondern umgekehrt von U nach E die Rede.

    Inwiefern? Ich sage a u s der Pop-Kultur, nicht: ein Werk, das de facto Pop w a r, ist nun E. Vielmehr kann ein solches Werk geschrieben worden sein, u m Pop zu sein, aber genau da fehllaufen. Es gibt auch, zum Beispiel, Bücher, die als eine A r t U völlig mißverstanden wurden oder mißverstanden gemacht wurden (bisweilen von ihren eigenen Autoren) und dann zu Gebrauchsliteratur abgesunken sind, weil kein Aas die Hintergründe und eben die F o r m begriff – oder das erst sehr spät begriffen wurde. Rudyard Kipling, der geradezu unvergleichliche Lyrik geschrieben hat, ist da ein gutes Beispiel, wie man aus so jemandem ein schlechtes macht. Borges wurde nicht müde, darauf hinzuweisen. Wir kennen Kipling als einen Pop-Autor von Kindern. Es ist im deutschen Sprachraum u.a. Gisbert Haefs zu verdanken, hier eine resolute Richtigrückung vorgenommen zu haben. Ein anderer Fall wäre Swifts Gulliver, der eine beißende, auch sexuell beißende Kunst-Satire auf die Gesellschaft seiner Zeit war, so auch begriffen und dann sehr schnell in das Märchenhafte runterduziert wurde, mit dem er heute weitgehend rezipiert wird – inkl. der horrenden Streichungen, stilistischen Veränderungen usw. Wiederum anders, wiederum Pop, jetzt Tanzmusik: die Geschichte des Tangos, die in den Vorstadtkneipen Palermos begann, in die Salons driftete, und dann von Leuten wie Piazzolla und Saluzzi in ein deutliches E gehoben worden sind: das ist nämlich nicht mehr (oder nur von Ballerinen) tanzbar, verläßt also den Gebrauchs-Bereich; einen einzigen Schritt weiter, man kann ihn beim späten Piazzolla schon ahnen, und das macht den Strich durchs harmonische Gefüge an sich.

    Ich bezweifelte die Möglichkeit eines Drifts betreffs ein und desselben Werks, bspw. von Warhols Monroe.

    Ich erst einmal auch. Dennoch ist vorstellbar, daß die Zusammenhänge, in denen selbst das Monroe-Bild auftaucht, plötzlich solche sind, die es skandalös werden und eine Energie entwickeln lassen, die ihrerseits zu graben anfängt. Das gilt vor allem für den harten Rock. Packen Sie den mal in eine Veranstaltung des verseiften Pops von heute; und gegen das wummernd-insistierende Pochen des Technos wirkt er ja geradezu ziseliert vor differenzierter Formschönheit.

    Entweder ist dieses Bild E oder U. Sollte da was “driften”, ist etwas faul an der Kategorisierung.

    An der ursprünglich vorgenommenen Kategorisierung, das mag sein, auch an der Absicht: Jemand der Pop schreiben will, aber E schafft, hat ein Problem.

    Ich:Auch die [Stimme des (Kunst-)Marktes, Anm.] kann eine große Rolle spielen.

    Sie:Ganz gefährlich! Torpedieren Sie nicht Ihre exemplarische Abwatschung des “blöden” Marktes. Ist der blöd, darf er nicht interessieren.

    Ich kenne kein „dürfen“. Mit Hegel gesprochen: Im Zweifel für die Tatsachen. Ob er blöd ist oder nicht, er hat Macht, und zwar auch die: etwas zu einem Kanon zu erklären. Was Reich-Ranicki dauernd tut. Und es durchsetzt. Das hat Folgen für Jahrzehnte. Ich kann nicht so tun, als wäre das belanglos.

    Ich:Ich spreche von chemischer Determination, das geht vor allem auf die Biologie.

    Sie:Ich sehe da keinen Unterschied in der Konsequenz des Arguments, also: wohin es uns führt. Determiniertheit, Steuerbarkeit, es kommt nur auf rechte Mischungsverhältnis von Enzymen an.

    Sie verkennen die Kategorie der Quantität. Auch darauf habe ich in meiner Vorlesung und auch sonst immer wieder hingewiesen: Eine quasi unendliche Menge an Determinanten führt zu Qualitäts-Umbrüchen. Hier sind es S i e, der banal-kausal denkt. Man darf deshalb aber nicht meinen, es seien die Determinanten a l s Determinanten nicht da. In wechselwirkungshafter Kausalität von Millionen Determinanten wird man nicht verfügen k ö n n e n. Das entbindet aber wiederum nicht von dem Unternehmen, es dennoch zu versuchen. Wobei solche Vesuche dann je als eigene Determinanten möglicherweise die Determinantenanzahl noch erhöhen. (Um sich den Gedanken zu veranschaulichen, kurz das gängigste Beispiel aus der Relativitätstheorie: e=mc2. Der Term besagt, um Lichtgeschwindigkeit erreichen zu können, müßte die Kraft, die eine solche Beschleunigung erreicht, so groß sein, daß sie einen Gegenstand bewegen kann, dessen Masse gegen Unendlich geht. Es liegt auf der Hand, daß das nicht funktionieren kann; und Einstein schloß daraus: Es ist prinzipiell unmöglich, eine Geschwindigkeit zu erreichen, die höher als die des Lichtes ist. – Daraus folgert sich dann u.a. auch die Irreversibilität von Zeit).

    Der Apfel fällt nicht von unten nach oben.

    Unter den bekannten Bedinungen eines und desselben geschlossenen Systems nicht. Das ist richtig. Zeigen Sie mir den Apfel, der sich unter den genannten Bedingungen anders verhält.

    Entzauberung der Dichtung, der Kunst überhaupt.

    D e n Schritt mache ich gerade nicht mit; er ist auch logisch nicht schlüssig, da die Empfindung von Zauber eben Empfindung ist, darüber hinaus aber Empfindungen, weil sie das Verhalten mitsteuern, Realitäten schaffen können, die es ohne diese Empfindungen nicht gegeben hätte. Deshalb werde ich nicht müde, von der Realitätskraft der Fiktionen zu sprechen. Dem benimmt es nichts, daß diese Empfindungen chemisch erzeugt sind. Damit diese Realitätskraft wirkt und sich umsetzt, braucht es also gar keine Entthronung des Kausalitätsprinzips; wahrscheinlich sogar im Gegenteil.

    Gerade im Pop wird so gearbeitet, werden die “wirksamsten” Ingredenzien immer wieder neu verschüttelt. Ich finde das kalt, unmenschlich.

    Ich bin bekanntlich ein entschiedener Pop-Gegner. Dennoch geht mir Ihre Position zu weit. Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß es Pop-„Künstler“ gibt, die das, was sie tun, nicht wegen des Marktes tun, sondern aus künstlerischen Überzeugungen und mit aller Liebe und Leidenschaft, die auch wir haben, wenn wir eben nicht tun, was sie tun. Nur ist ihr Widerstandspotential oft geringer als unsres, aber auch das oft aus überzeugter Liebe: Ich will doch f ü r jemanden schreiben, f ü r jemanden musizieren, also muß ich mich auf das einlassen, was e r möchte. Daß hinter dem, „was er möchte“, eine ganze Industrie steht mit sämtlichen Grob- und Feingriffen der Bedürfniserzeugung, fällt dabei untern Tisch, und Anpassung greift. Das ist für einige dieser Pop-Künstler möglicherweise eine hochmasochistische Exerzitie, von der wir uns keinen Begriff machen, weil wir sie nicht über uns ergehen lassen – mit dem Effekt allerdings, daß unsereins entweder einen zusätzlichen Brotberuf braucht (wogegen wirklich nichts einzuwenden ist) oder aber an seinen Existenzgrundlagen herumschrabbt.

    (…) Wenn aber doch, dann muss da noch etwas anderes sein als nur Chemie. Oder nicht?

    Nein. Weshalb? Ich habe in MEERE und später in den BAMBERGER ELEGIEN geschrieben: Das Wunder sei die C h e m i e, nicht irgend ein Esoterisches, das auf Sinnlichkeit mit reduzierter Abstraktion antwortet. Gegenüber dem, was „die Chemie“ tatsächlich „geschaffen“ hat, wird jede Schöpfungsgeschichte nämlich wirklich blaß und pures Papier. Wer jemals bei einer Geburt dabeiwar (ich erlebte die von d r e i Kindern), wird ganz leise mit seiner Abstahiererei, und ehrfürchtig. Ja, ich habe Ehrfurcht vor der machtvollen und kreativen Differenzierung chemischer Prozesse und ihrer millionenfachen Mehrwertigkeit, die ich genau deshalb, auf einen Mono-Willen, überhaupt auf Intention hinunterzuabstrahieren, ablehne.

    Und in den Creative-Writing-Kursen werden Mischungsverhältnisse von Molekülen und Mischungstechniken erlernt.

    Creative-writing-Seminare sind Handwerksschulen; das finde ich in Ordnung. Komischerweise sind Literaten hier immer empfindlich, indes handwerkliche Ausbildung, etwa in Kompositionslehre, ganz selbstverständlich in die Geschichte nahezu jedes Musikers gehört und jedes Malers. Es kann nicht einmal schaden, sondern sehr helfen, wenn man gut zu kopieren erlernt. Alles weitere dann ist in der Tat nicht mehr lernbar, doch das, w a s sich lernen läßt, ist enorm.

    Ohne Zauber – wenn wir den wegdiskutiert haben – kommen wir dorthin.

    Sie irren, wie ich mich selbst gerade eines Besseren belehren lassen mußte. >>>> So etwas entsteht in Schreibseminaren nämlich a u c h. Und eine der für mich wichtigsten neuen, in diesem Fall weiblichen Stimmen – sehr konsequent, sehr poetisch und oft sogar gegen die eigenen „eigentlichen“ Intentionen allein ihrer inneren poetischen Stimme folgend – hat die Leipziger Literatenschule mehr als nur unbehelligt absolviert, ja hat dort vieles gelernt, das sie heute gut gebrauchen kann – auch wenn es sich letztlich nun gegen Leipzig richtet: >>>>> Ricarda Junge.

  30. ANH

    @schein

    Das finde ich schön, daß >>>> Sie hier jetzt ebenfalls die Stimme erheben.

    Daß ich über Adorno selbst sehr geprägt bin, werden Sie gemerkt haben. Es gibt aber Bewegungsdifferenzen, die ganz sicher auch damit zu tun haben, daß ich dichte, er hingegen tat’s nicht; und das bißchen Musik, das er schrieb, fällt hier zudem nicht auf die Waage. Man mag deshalb seine Positionen theoretisch teilen; ein andres ist’s, wenn man selber zeugt. In dem Moment mag man so negativ sein, wie man will; allein der Kinder halber ist a) von jeglichem Verstummen Abstand zu nehmen und b) jede auch nur näherungsweise Form eines double binds zu vermeiden, wie sie Adornos Philosophie gerade da permanent durchzieht, wo sie auf Praktisches abstellt (was übrigens zur Folge hatte, das ist double-bind-typisch, daß seine Assistenten an Abhängigkeit kaum mehr überbietbar waren).

    Man muß Adorno, um das scharf zu formulieren, entgegenhalten: Es gibt viel Lust und eine wirklich herrliche Wollust nach Auschwitz. Deshalb gibt es auch noch die Feier nach Auschwitz und eine Erhebung, die nicht nur aus der Negation stammt. Daran teilzunehmen, ist das R e c h t jedes Nachgeborenen, wahrscheinlich auch ein Recht der Zeitgenossen. Will sagen: Adorno, letztlich, vertritt eine negative Eschatologie.

    Das benimmt aber seinen Argumenten nichts. Ich stelle sie nur in andere Zusammenhänge und tue dies mit den Erfahrungen der nicht-masochistischen, keine „Geschichtsschuld“ (die eine moderne Nachform der Erbsünde ist) akzeptierenden, lustbetonten Verspieltheit der, ich sag mal, „ernsten Postmoderne“, die sich nicht länger darauf eingelassen hat, Schuldrituale zu ihrer causa movens zu machen. Das heißt nicht, daß ich schuldhafte Zusammenhänge nicht sähe und nicht reflektierte; es heißt allein, daß ich sie nicht länger zum letzten Grund meiner (auch: Kunst)Handlungen mache und schon gar nicht zu dem meiner Kinder – und Kinder überhaupt – werden lasse. Sonst erzeugte – eine Dialektik, der Adorno selbst anheimfällt – ich eben die Inhumanität, der seine Philosophie wehren wollte.

    Der Casus ist aber tatsächlich vor allem der Ihres letzten Satzes:

    (…) wobei sie allerdings alles das, was an ihr selling ist, dem Warenkreislauf erst entwendet haben muss, um ihm schließlich – qua Form – entgehen zu können!

    Dem steht Adornos eigenes Diktum entgegen, demzufolge kein wahres Leben im falschen möglich sei. Wenn dem so ist, wird man das falsche Leben (allein Adornos wertende Kategorien, die Erkenntnis- mit Moraltheorie vermischen, sind einigermaßen fragwürdig; aber sie entstammen selbstverständlich einem wirkenden, wohl vom frühen Benjamin her wirkenden religiösen – monotheistischen – Fundament) annehmen müssen und aus diesem falschen Leben heraus reagieren (nicht: agieren), nämlich formen. Ich habe das in wiederum meinem letzten Satz der >>>> Zweiten Heidelberger Vorlesung angespielt. Es geht also darum, aus der Affirmation heraus Widerstand zu leisten. Die Kunstformen, die das m. E. exemplarisch vorgeführt haben, waren die frühen Montagen/Collagen und später Fluxus; denken Sie an einige der Environments Wolf Vostells. In der Literatur ist derartiges bislang kaum produktiv flüssiggemacht worden – von Döblin kennt man ja nur noch den Alexanderplatz – jedenfalls nicht als sinnlich evidente Erscheinung. Eine große Ausnahme stellt für mich hier Pynchons Gravity’s Rainbow dar, auch V. schon; nicht aber mehr seine späteren Bücher, oder nicht mehr so sehr.

    Wir können, was wir dichten, nur um den Preis des Nichtwahrgenommenwerdens dem Warenkreislauf entziehen; das genau kann aber nicht die Lösung sein. Letztlich befinden wir uns in einem paradoxen, ja antinomen Prozeß. Meine Hoffnung – und der Ansatz „meines“ Kybernetischen Realismus – ist, daß sich aus den objektiven und subjektiven Antinomien Funken und schließlich leidenschaftliche Feuer schlagen lassen – ganz, wie Adorno selbst es auch wieder wünschte: EROS & ERKENNTNIS.

  31. perkampus

    @ANH

    Das ist es ja, was mich stutzig macht. Das, wovon sie reden, wenn sie Kybernetischer Realismus und Möglichkeitenpoetik sagen, ist für mich völlig anzunehmen. Die einzige Divergenz scheint in der Verkausalisierung der Phänomene zu liegen. Und gerade ein wissenschaftlicher Materialismus wird uns im Erkennen nicht weiterhelfen. Die Probleme, die wir mittlerweile in unüberschaubarer Zahl vorfinden, sind bereits Legion. Und namhafte Wissenschaftler sind es dann, die zugeben, dass sie es nicht begreifen und die eine religiöse Debatte dadurch erst auslösen. Ein Beispiel davon liefert Max Planck – und wenn ein solcher Wissenschaftler, der ja kein Schwärmer war, plötzlich von Gott spricht, halte ich das für die eigentliche Katastrophe, die dann von halbwahnsinnigen zum Kreationismus ausgebaut wurde.

    Ich glaube, die Natur will von uns erkannt werden, nur laufen wir in allen Wissenschaften bereits ins Leere, weil wir nicht bereit sind – um es grob zu formulieren – das Rad an den Nagel zu hängen. Man muss zB. Nicht an Geister glauben, um an einem Selbst festzuhalten. Von allen Kräften, die existieren, sind uns immer nur die Auswirkungen bekannt, was Kraft an sich ist, wissen wir nicht. Das beste Beispiel hierzu: Die Gravitation.

    Auch um das Phänomen der subatomaren Welt wirklich verstehen zu wollen, müssten wir ein völlig neues Verständnis der Ordnung entwickeln oder zu der Vorstellung gelangen, dass man gelegentlich signifikante Aspekte eines Phänomens weniger dadurch versteht, dass man seine Teile untersucht, sondern eher dadurch, dass man eine Ganzheit erforscht, die grösser ist als die Summe ihrer Teile.

    Möglicherweise interpretiere ich aber auch nur Ihren Kausalitätsbegriff falsch, denn anders wäre es kaum vorstellbar, dass ich mit dem, was Sie sagen, konform gehe. Da kann es nicht in der Basis bereits Differenzen geben, die dann, wie durch ein Wunder, wieder zusammenführen.

  32. Creative Writing Online « Turmsegler

    […] Grad noch war von Creative-Writing-Kursen die Rede. Da passt die Meldung über eine Marketing-Aktion der besonderen Art, präsentiert […]

  33. lebowski

    @Perkampus

    Von allen Kräften, die existieren, sind uns immer nur die Auswirkungen bekannt, was Kraft an sich ist, wissen wir nicht. Das beste Beispiel hierzu: Die Gravitation

    Bei allem Respekt, aber es wirklich hanebüchen, was sie da erzählen, denn die Gravitation ist bekanntermaßen nichts anderes, als die wechselseitige Anziehungskraft massereicher Körper aufgrund ihrer Schwerkraft, wie Newton in dem gleichnamigen physikalischen Gesetz bereits vor dreihundert Jahren festgestellt hat; dies ist physikalisch und wissenschaftlich unumstößlich bewiesen (Ebbe und Flut), und seit Albert Einstein wissen wir auch, dass Energie, Masse und Lichtgeschwindigkeit in einem physikalischen und mathematischen Verhältnis zueinander stehen, was soll daran also noch geheimnisvoll sein? – Ihre Behauptung kann daher diesbezüglich höchstens spekulativer oder philosophischer Natur sein.

    …nur laufen wir in allen Wissenschaften bereits ins Leere

    Unzulässige Verallgemeinerung, mit derartigen unqualifizierten Äußerungen disqualifizieren sie sich praktisch selbst.

    …dass man gelegentlich signifikante Aspekte eines Phänomens weniger dadurch versteht, dass man seine Teile untersucht, sondern eher dadurch, dass man eine Ganzheit erforscht, die grösser ist als die Summe ihrer Teile

    Eben das ist ja das Ziel der von Ihnen bereits zuvor erwähnten Quantenmechanik, denn wie soll man ein großes Ganzes verstehen, wenn man nicht zuvor die signifikanten Aspekte und Phänomene seiner Teilchen untersucht hat und versteht. Schließlich kann man auch nicht vom bloßen romantischen Anblick eines Apfels auf dessen innere, molekulare Basis schließen.

    …Auch um das Phänomen der subatomaren Welt wirklich verstehen zu wollen, müssten wir ein völlig neues Verständnis der Ordnung entwickeln

    Welches Phänomen meinen sie? – Interpretieren sie den Begriff subatomare Welt für uns doch etwas genauer, die wir alle hinter dem Mond leben; was sie vermutlich meinen, ist wohl eher im Bereich des Spirituellen oder Fantastischen anzusiedeln, oder wollen sie etwa allen Ernstes bestreiten, dass die Atome, aus denen letztendlich auch der Mensch besteht, nicht existieren?

  34. Benjamin Stein

    @lebowski

    Sie beschreiben oben die Gravitation. Was Gravitation i s t, haben Sie damit weder beschrieben noch verstanden.

  35. ANH

    @Benjamin Stein zu lebowski

    Ob er sie verstanden hat, darüber läßt sich keine logisch begründete Aussage treffen; aber das ist auch nicht wichtig. Niemand von uns muß wissen, was Gravitation i s t, um ihre Gesetzmäßigkeiten zu beobachten, zu beschreiben und die Ergebnisse zueinander in ein Verhältnis zu setzen, das praktikable Schlüsse zuläßt – praktikable Schlüsse sind solche, die sich so anwenden lassen, daß eine irrtümliche Anwendung zunehmend unwahrscheinlich wird. Hier gilt ein Primat der Erfahrung. Wenn etwas immer wieder so und so aufgetreten ist und dies mit der Erfahrung übereinstimmt und kein Grund zu sehen ist, aus welchem etwas (unter den definierten Bedingungen) n i c h t so eintreten sollte, dann ist ein empirisch und logisch erschlossenes Theorem wahr, und zwar so lange, bis d o c h einmal ein anderer Umstand eintritt.

    Des weiteren: Gravitation ist ein beobachtbares Phänomen. Auch das Wasserstoffatom ist ein Phänomen. Wie bei jenem müssen wir auch bei diesem nicht wissen, was es eigentlich i s t, um wahre Aussagen über sein Verhalten treffen zu können. Ja, was ein Wasserstoffatom i s t, ist dafür an sich ganz egal. Es ist sogar egal, ob jemand sagt: Es ist Gott, und ein anderer sagt: Es ist ein Strom, und ein wieder anderer sagt: Es ist ein Büschel Gras, und ein Vierter: Es ist eine Energieform. Man kann, was etwas sei, einfach ausklammern, d.h. es umbenennen – sagen wir in A – und dann mit diesem Term „A“ wissenschaftlich begründet arbeiten – unter der Voraussetzung, daß sich das Grasbüschel und Gott und der Strom beobachtbar an immer wieder dieselben Gesetzgmäßigkeiten hält.

  36. perkampus

    @lebowski

    WAS ist hanebüchen? ICH sagte, wir wissen nicht, WAS Kraft ist, ICH sagte, uns sind immer nur die AUSWIRKUNGEN bekannt. WAS also ist hanebüchen an dieser TATSACHE? Außerdem IST an dem deiner Meinung nach längst „unumstößlich Bewiesenem“ – wie ich auch bei dir sehe, angenommen, dass die Schwerkraft eine Eigenschaft der Erde sei. Ist sie aber nicht.

    Es ist selbstverständlich, dass Materie und Kraft einander bedingen, das Gequake von dir ist Kokolores, denn alle Materie entsteht und besteht NUR durch eine Kraft, welche die Atomteile in Schwingung versetzt und zusammenhält. Auch unser Planentensystem, die Galaxien, das ganze Universum wird durch diese Kraft zusammengehalten. WAS ABER IST DIESE KRAFT? Darum geht es.

    2. WAS daran soll unzulässig sein? WER lässt nicht zu, dass dies zu ERKENNEN ist und für mich so zu sagen ist?

    Auch was du über Quantenmechanik sagst, ist ein großer Schmarrn und ich habe keine Lust dazu etwas zu sagen, denn was du da so zynisch über den Apfel erwähnst, ist GENAU DAS VORGEHEN DER WISSENSCHAFTEN SEIT JAHRHUNDERTEN.

    Und glaube mir, ich werde einen Teufel, tun, DIR irgendetwas zu erklären. Da kannst du mich siezen wie du willst. Du bist mir einfach zu intrigant und dämlich.

  37. Benjamin Stein

    @ANH

    Also wäre dies „Drift“-Frage nun geklärt. Ich kann mich dem, was jetzt dazu oben steht, völlig anschliessen.

    Sie verkennen die Kategorie der Quantität. Auch darauf habe ich in meiner Vorlesung und auch sonst immer wieder hingewiesen: Eine quasi unendliche Menge an Determinanten führt zu Qualitäts-Umbrüchen. Hier sind es S i e, der banal-kausal denkt. Man darf deshalb aber nicht meinen, es seien die Determinanten a l s Determinanten nicht da. In wechselwirkungshafter Kausalität von Millionen Determinanten wird man nicht verfügen k ö n n e n.

    Dies schliesslich hat mir besonders gefallen, weil man so nach heftigstem Messen, Protokollieren, In-Gesetze-Giessen etc. dort ankommt, wo auch der Mystiker hockt und Buchstaben permutiert, um die Schöpfung zu ändern (zu wirken). Wie kann man doch Gleiches meinen und dabei nicht nur von unterschiedlichsten Ausgangspunkten aus sondern auch noch mit unterschiedlichstem Wortschatz reden!

    Also einverstanden: So wird der Zauber nicht zwangsweise eingebüsst werden. Darüber wäre ich beruhigt.

  38. ANH

    @Benjamin Stein. Mystiker.

    D i e s e n Aspekt hätte ich niemals bestritten und werde ich nicht bestreiten:

    (….) weil man so nach heftigstem Messen, Protokollieren, In-Gesetze-Giessen etc. dort ankommt, wo auch der Mystiker hockt und Buchstaben permutiert, um die Schöpfung zu ändern (zu wirken).

    Hier nämlich, wie bei der leichteren Frage nach Verhältnis und Unterschieden von Form und Design, beginnen in der Kunst die eigentlichen Abenteuer.

    ANH, nachgetragen vom 22. Dezember 2007.

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>