Mrs Dalloway in der Bond Street

4. November 2007

••• Wie gestern angekündigt, hier nun die Leseprobe von Virginia Woolf: Mrs Dalloway in der Bond Street…

Interessant finde ich die Reminiszenzen sowohl an Prousts „Verlorene Zeit“ als auch an Joyces „Ulysses“. Belegen kann ich freilich nicht, ob diese Anklänge beabsichtigt waren, aber dem aufmerksamen Leser werden sie nicht entgehen.

Was einem diese Prosa nicht verzeiht, ist Unaufmerksamkeit. Wir erfahren in einem Satz den Nachnamen der Protagonistin, in einem anderen den Vornamen. Beschreibungen ihres Äusseren verteilen sich über den Text und werden nur im Kontext anderer Beobachtungen erwähnt. Zeitzeichen werden gesetzt — etwa der Lieferwagen von Durtnall — die es uns ermöglichen, die ungleichzeitigen Gedankengänge von Clarissa zu synchronisieren mit dem Fortschreiten der Zeit während ihres Spaziergangs.

Zufällig, scheint es, ist hier nichts. Alles und jedes an seinem einzig möglichen Ort.

 

Mrs Dalloway sagte, sie würde die Handschuhe selber kaufen gehen.

Big Ben schlug, als sie auf die Straße hinaustrat. Es war elf Uhr, und die ungewohnte Stunde war so frisch, als würde sie Kindern am Strand zuteil. Doch es lag etwas Feierliches im bedächtigen Ausschwingen der wiederholten Schläge; etwas Bewegendes im Rollen der Räder und im Trappeln der Schritte.

Zweifellos waren sie nicht alle in Sachen des Glückes unterwegs. Viel mehr läßt sich über uns sagen, als daß wir durch die Straßen von Westminster gehen. Auch der Big Ben wäre nichts als rostverzehrte Stahlstäbe, gäbe es nicht die sorgende Pflege des Bauamts Seiner Majestät. Nur für Mrs Dalloway war der Augenblick vollkommen; für Mrs Dalloway war der Juni frisch. Eine glückliche Kindheit — und nicht nur seinen Töchtern war Justin Parry als ein feiner Kerl erschienen (schwach natürlich auf der Richterbank); Blumen am Abend, aufsteigender Rauch; das Krächzen der Saatkrähen, die sich von hoch, hoch oben herabstürzten, tief, tief durch die Oktoberluft — es gibt keinen Ersatz für die Kindheit. Ein Blatt Minze bringt sie zurück: oder eine Tasse mit einem blauen Ring.

Arme kleine Würmer, seufzte sie und drängte vorwärts. Was, genau den Pferden unter der Nase, du kleiner Teufel! und mit ausgestreckter Hand blieb sie auf dem Bordstein stehen, während Jimmy Dawes von der anderen Seite herübergrinste.

Eine charmante Frau, ausgeglichen energisch, seltsam weißhaarig für ihre rosa Wangen, so sah sie Scope Purvis, Companion of the Bath, als er in sein Büro eilte. Sie wurde ein wenig steif, während sie wartete, bis der Lieferwagen von Durtnall vorüber war. Big Ben schlug zum zehnten; schlug zum elften Mal. Die bleiernen Kreise lösten sich in der Luft auf. Stolz hielt sie aufrecht, und daß sie Disziplin und Leiden geerbt hatte, weitergab und mit ihnen vertraut war. Wie die Menschen litten, wie sie litten, dachte sie, und sie dachte an Mrs Foxcroft letzten Abend in der Botschaft, die geschmückt gewesen war mit Edelsteinen und sich vor Kummer verzehrte, weil dieser nette Junge tot war und jetzt der alte Landsitz (der Lieferwagen von Durtnall fuhr vorbei) an einen Cousin fallen mußte.

»Ich wünsche einen guten Morgen«, sagte Hugh Withbread und lüftete vor dem Porzellangeschäft einigermaßen übertrieben den Hut, denn sie hatten sich als Kinder gekannt. »Wohin des Wegs?«

»Ich gehe so gern in London spazieren«, sagte Mrs Dalloway. »Es ist mir eigentlich lieber als Spaziergänge auf dem Land!«

»Wir sind gerade heraufgekommn«, sagte Hugh Withbread. »Leider müssen wir Ärzte aufsuchen.«

»Milly?«, fragte Mrs Dalloway sofort mitfühlend.

»Unpäßlich«, sagte Hugh Withbread. »Das sind so Geschichten. Geht’s Dick denn gut?«

»Erstklassig!«, sagte Clarissa.

Natürlich, dachte sie im Weitergehen, Milly ist etwa so alt wie ich — fünfzig — zweiundfünfzig. Wahrscheinlich wird es das sein, Hughs ganze Art und Weise hatte es ausgedrückt, hatte es unmißverständlih ausgedrückt — der arme, alte Hugh, dachte Mrs Dalloway und erinnerte sich amüsiert, dankbar, bewegt, wie scheu, wie brüderlich — besser tot, als dem eigenen Bruder etwas zu sagen — Hugh immer gewesen war, als er in Oxford lebte und herüberkam und vielleicht einer von ihnen (verflixt!) gerade nicht ausreiten konnte. Wie also konnten Frauen einen Sitz im Parlament haben? Wie konnten sie zusammen mit Männern etwas unternehmen? Denn da gibt es diesen außerordentlich tiefen Instinkt, etwas drinnen in einem; man kommt nicht darüber hinweg; braucht es gar nicht erst versuchen, und Männer wie Hugh respektieren es, ohne daß wir es aussprechen, und das, dachte Clarissa, mögen wir so an dem lieben alten Hugh.

Virginia Woolf, aus: „Mrs Dalloway in der Bond Street“
in: „Das Mal an der Wand (Gesammelte Kurzprosa)“
Deutsch von Dieter E. Zimmer
© S. Fischer Verlag 1988

4 Reaktionen zu “Mrs Dalloway in der Bond Street”

  1. parallalie

    ich sagte, er liest nicht, da schenkte ich mir das glas voll, ich dachte, sollen doch die leser denken, denkt er, sagt er, anderswo auch, hab‘ da so meinen bildschirm vor augen, aber warum zitiert der dauernd, ohne selber was zu schreiben von sich, der schreibt doch gar nichts von sich, immer nur von anderem, und wie schwer das ist mit dem lesen, nicht mal den ulysses, vom proust ganz zu schweigen (starb doch erst gestern einer beim marathon in new york an herzinfarkt), und entdeckt heym via gutenberg, was auch gar nicht vom spiegel initiiert worden ist, sondern einfach nur eingehamstert, was auch ohne spiegel schon vorher da war… hm

  2. Benjamin Stein

    Meine Intentionen sind offengelegt. Ich lese laut und denke nach und zitiere selten, wenn nicht gar nie, ohne den Grund dafür zu nennen. Ich wäge meine eigenen Worte gegen grosse Gewichte, um herauszufinden, was von ihnen zu halten ist. Ich entdecke Texte, die ich noch nicht kannte, an verschiedensten Stellen, seien es Hamsterburgen oder sonstige Orte, an denen Dichtung archiviert ist. Und dieses Blog kreist um andere, weil ich sie ernster nehme als mich selbst.

    Bleiben Sie eine Weile dabei, verfolgen Sie, was hier geschieht. Dann werden Sie es verstehen.

  3. parallalie

    aber mit dem kopf schütteln dann doch immer noch, wenn mir danach, nick‘ aber dennoch Ihren hinweisen folgend nun doch : typische blog-wahrnehmung : man sieht den block nicht : und bemäkelt den splitter : (ob literarische oder nicht) : darum bin ich ja auch dafür : ein buch ganz zu lesen

  4. Beautiful « Turmsegler

    […] Parallalie, der letztens in einem Kommentar den Kopf schüttelte über meine Lesepraxis und mir kurz darauf half, Raymond Queneau wiederzufinden, eben jener […]

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