Die Wellen

29. Oktober 2007

In The Horizon - © 2007 by likeviolence@deviantart.com
In The Horizon – © 2007 by likeviolence@deviantart.com

Ich sehe einen Ring vor mir hängen, sagte Bernhard. Er flimmert und hängt in einem Reifen von Licht.

Ich sehe eine Scheibe von blassem Gelb sich ausbreiten, sagte Susan, bis sie an einen Streifen von Purpur stößt.

Ich höre einen Laut, sagte Rhoda, tschiep-tschilp, tschiep-tschilp, auf und ab steigen.

Ich sehe einen Ball, sagte Neville, wie einen Tropfen, der an den ungeheuren Flanken eines Berges herabhängt.

Ich sehe eine scharlachrote Quaste, sagte Jinny, eine von Goldfäden durchflochtene.

Ich höre etwas stampfen, sagte Louis. Der Fuß eines großen Tieres ist angekettet. Es stampft und stampft und stampft.

Virginia Woolf, aus: „Die Wellen“

••• Virginia Woolf hat Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit unerschütterter Begeisterung gelesen. Die Begeisterung ging so weit, dass sie für einen epochemachenden Roman (von 300 Seiten!) das Thema Erinnerung und das Verfliessen der Zeit aufnahm. Gemeint ist ihr Roman „Die Wellen“. Statt einer präsentiert Virginia Woolf uns sechs Biographien aus der persönlichen Nahaufnahme. Auch die Erzählungen ihrer Protagonisten beginnen in der Kindheit. Doch sie sind – und das ist sicher eine der grossen Herausforderungen dieses Romans – ineinander verschränkt.

Umrahmt sind die Kapitel, die für Phasen dieses Lebenskaleidoskops stehen, mit neun Präludien in lyrischer Prosa, vielleicht so etwas wie das literarische Pendant zu Debussys „La Mer“, wenngleich für meinen Geschmack um einiges raffinierter. Auf zwei Zeitebenen bewegt sich Virginia Woolf in diesen Dichtungen: zum einen beschreibt sie in jedem dieser neun Stücke einen bestimmten Zeitpunkt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang am Meer. Doch es sind nicht Zeitpunkte innerhalb eines Tages. Zusätzlich schreitet die zweite Zeitebene voran, und zwar durch das Jahr, die Jahreszeiten. (Obiges Bild passt zur Tageszeit des ersten Preludes, aber nicht zur Jahreszeit…)

Allein die Präludien waren für mich immer ein Stück perfekter Dichtung, von der Idee über die Komposition bis hin zu sprachlichen Ausführung und dem Klang. Aber auch mit der Erzählweise der Biographien hat Virginia Woolf mich begeistert. Sie hat sogar die Idee in mich eingepflanzt, der ich seither, was meine eigene Prosavorstellung betrifft, ganz anhänge. Das ist zum einen die konsequente Innenperspektive, aus der heraus erzählt wird (obgleich sie es bewerkstelligt, sich immer wieder in die dritte Person zurückzuziehen und so Abstand zu nehmen und als aussenstehende Erzählerin spürbar zu bleiben). Und es ist zum anderen das Verweben von Innenwelten, die sich so im Draussen nie begegnen. Und ihr Webmuster wechselt die Farben (die Personen) mitunter von Absatz zu Absatz.

Sie macht alles richtig, sie macht alles wunderbar. Sie hält die Intensität auf höchstem Niveau. Und so sehr ich dieses Buch liebe – es ist mir doch in Jahren nie gelungen, es einmal ganz zu lesen. Es gelingt mir einfach nicht. Ich beginne immer wieder von vorn. Mal breche ich ab auf Seite 100, mal in der Mitte. Die letzten Seiten erreiche ich nie. Und anders als bei Proust stehe ich bei Virginia Woolfs Wellen völlig ratlos vor diesem Phänomen: Ich habe eines der wundervollsten Bücher vor mir und kann und kann es nicht bis zum Ende lesen. Aber ich empfinde dabei nicht das geringste bisschen Verlust.

 

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Meer war vom Himmel nicht zu unterscheiden, es war nur ein wenig gefältelt wie ein geknittertes Tuch. Während sich der Himmel allmählich erhellte, lag am Horizont ein dunkler Streifen, der das Meer vom Himmel trennte, und das graue Tuch war von dicken Linien gestrichelt, die sich eine hinter der andern unter der Oberfläche bewegten, einander folgten, einander verfolgten, ohne Unterlaß.

Während sie sich dem Ufer näherten, hob sich eine jede, wölbte sich, brach und warf einen dünnen Schleier weißen Wassers über den Sand. Die Welle hielt inne und zog sich dann zurück, seufzend wie ein Schläfer, dessen Atem unbewußt kommt und geht. Allmählich klärte sich der dunkle Streifen am Horizont, als hätte sich in einer Flasche Wein ein Bodensatz gebildet und das Glas grün gelassen. Dahinter klärte sich auch der Himmel, als wäre der weiße Satz dort zu Boden gesunken oder als hätte der Arm einer unter den Himmelsrand gebetteten Frau eine Lampe hochgehoben, und flache Strahlen von Weiß, Grün und Gelb breiteten sich über den Himmel wie die Rippen eines Fächers. Dann hob sie die Lampe höher, und die Luft schien faserig zu werden und sich von der grünen Oberfläche in rot und gelb flackernden und flammenden Fasern loszulösen gleich dem rauchigen Feuer, das von einem Scheiterhaufen emporzüngelt. Allmählich verschmolzen die Fasern des brennenden Scheiterhaufens zu einem einzigen Schwaden, einer einzigen Weißglut, welche die Last des grauwolligen Himmels über sich hochstemmte und ihn in Millionen Atome von sanftestem Blau verwandelte. Die Oberfläche des Meers wurde langsam durchsichtig und kräuselte sich und glitzerte, bis die dunkeln Striche beinahe ausradiert waren. Langsam hob der Arm, der die Lampe hielt, sie höher und dann noch höher, bis eine breite Flamme sichtbar wurde; ein Bogen von Feuer brannte am Himmelsrand, und überall darunter lohte das Meer golden.

Das Licht fiel auf die Bäume in dem Garten und machte erst ein, dann noch ein und wieder ein Blatt durchscheinend. Hoch oben zwitscherte ein Vogel; dann kam eine Pause; ein andrer zwitscherte weiter unten. Die Sonne machte die Mauern des Hauses kantiger und legte sich wie die Spitze eines Fächers auf eine weiße Gardine und tupfte einen blauen Fingerabdruck von Schatten unter das Blatt neben dem Schlafzimmerfenster. Die Gardine bewegte sich ein wenig, aber innen war alles dämmerig und unstofflich. Außen sangen die Vögel ihre blanke Melodie.

Virginia Woolf, aus: „Die Wellen“
Deutsch von Herberth und Marlys Herlitschka
© 1931 Quentin Bell and Angelica Garnett
© 1959 S. Fischer Verlag

3 Reaktionen zu “Die Wellen”

  1. Virginia Woolf « Turmsegler

    […] Der Beitrag über Virgina Woolfs “Die Wellen” ist hier scheinbar ein wenig untergangen. Das finde ich schade, weil es ein wirklich […]

  2. Die romanbelletristische Zukunft « Turmsegler

    […] künstlerische Fortschritte gemacht wie im letzten. Sollten all die Bemühungen von Simon, Woolf und Joyce (um nur drei von vielen zu nennen) völlig vergeblich gewesen sein? Nein. Ich […]

  3. Überm Rauschen « Turmsegler

    […] Bücher in den Sinn, die einem den Zugang nicht eben leicht machen. Ich dachte an Woolfs »Wellen«, an Hermlins »Abendlicht« und Mayröckers »Reise durch die Nacht«. Aber gelegentlich kann […]

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