Die Scheibe

14. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu „Die Scheibe“ von Jorge Luis Borges

Crowley Tarot - Ace of Discs••• Ich fürchte, ich bin mit meinem ersten Beitrag über die Begegnung mit dem Phantastischen in Borges Erzählungen zu forsch vorgeprescht und habe es versäumt (wie in den Kommentaren von Michael Perkampus auch zu recht moniert wurde) den Begriff des Phantastischen bei Borges enger einzufassen. Ich will dies anhand der sehr kurzen Erzählung „Die Scheibe“ nachholen. Darin spielt Religion nur am Rande eine Rolle, was mich vor eben jenen Ausschweifungen bewahren wird, die mich in Teufels Küche bringen. Sie veranschaulicht aber sehr genau, was das Phantastische bei Borges ausmacht. Ich werde eine Definition in meiner Rolle als Leser versuchen – nicht als Germanist und ohne Rückgriff auf eine der zahlreichen Literaturmodelle, die es zur Phantastischen Literatur gibt. Bei Borges geht es immer auch um das Lesevergnügen. Wer Spass an der Lektüre hat, hat den Weg in den Text hinein schon gefunden. Dort muss er sich lediglich umsehen, um zu erkennen, worin sein Reiz liegt. Lesen, eintauchen, schauen, Spass haben: das ist die Methode, die ich hier anwenden möchte.

„Die Scheibe“ erzählt von einem Holzfäller, der am Rand eines grossen Waldes lebte. Sein Bruder war bereits vor langer Zeit gestorben. Zurückgezogen hauste der Holzfäller. Er galt als Geizhals. Zu Unrecht, wie er meinte, denn „was kann ein Waldarbeiter schon zusammenbringen?“ Eines Abends klopfte es an seine Tür. Als der Holzfäller die Türe öffnete, stand ein grosser, alter Mann vor ihm, den das Alter „eher herrisch als hinfällig“ gemacht hat. Ein stolzer, aber gebrechlicher Mann. Der Holzfäller bat ihn hinein, gab ihm zu essen und liess ihn am Boden schlafen – dort, wo sein Bruder starb.

Es wurde Tag, als wir das Haus verliessen. Der Regen hatte aufgehört, und die Erde war bedeckt mit neuem Schnee. Ihm fiel der Stock aus der Hand, und er befahl mir, ihn aufzuheben.

„Warum muss ich dir gehorchen?“ fragte ich.

„Weil ich ein König bin“, antwortete er.

Ich hielt ihn für verrückt. Ich hob den Stock auf und reichte ihn ihm.

Seine Stimme hatte sich verändert.

„Ich bin der König der Secgen. Viele Male habe ich sie in harter Schlacht zum Sieg geführt, doch in der Schicksalsstunde verlor ich mein Reich. Mein Name ist Isern, und ich bin aus dem Geschlechte Odins.“

„Ich bete nicht zu Odin“, antwortete ich. „Ich bete zu Christus.“

Diese Szene ist beklemmend in ihrer Kürze. Die Männer sprechen kaum miteinander. Jeder gesprochene Satz dient der Abgrenzung voneinander. Zuerst gibt der Holzfäller nach, er hält seinen Gast für verrückt. Der letzte Satz aber macht beide endgültig zu Gegenspielern. Odin und Christus können es nicht miteinander. Sie sind Götter verschiedener Religionen, Symbole unterschiedlicher, unvereinbarer Weltanschauungen: Wenn Christus der wahre Gott ist, kann Odin neben ihm nichts gelten.

Doch Odin gibt sich nicht so leicht geschlagen:

Als hätte er mich nicht gehört, fuhr er fort: „Ich wandle auf den Pfaden der Verbannung, aber immer noch bin ich der König, denn ich habe die Scheibe. Willst du sie sehen?“

Er öffnete seine knochige Hand. Auf der Handfläche war nichts. Sie war leer. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sie immer geschlossen gehalten hatte. Er sah mich fest an und sagte:

„Du kannst sie anfassen.“

Mit einigem Argwohn fasste ich mit den Fingerspitzen auf die Handfläche. Ich fühlte etwas Kaltes und sah einen Glanz. Die Hand wurde jäh geschlossen. Ich sagte nichts. Geduldig fuhr der andere fort, als spräche er mit einem Kind:

„Es ist Odins Scheibe. Sie hat nur eine Seite. Es gibt nichts anderes auf der Welt, das nur eine Seite hat. Solange sie in meiner Hand ist, bin ich König.“

Die Scheibe, die nur eine Seite hat. Was macht sie so aussergewöhnlich? Weshalb fasziniert sie uns auch als Leser? Eine Fläche, die eine horizontale aber keine vertikale Ausdehnung besitzt: Die Geometrie ist voll davon. Weshalb also staunen wir?

Die Antwort, die ich auf diese Frage gefunden habe, ist die: In unserem Alltag bewegen wir uns in verschiedenen Welten. Da ist die Familie, da sind die Freunde, da ist der Job, das Studium, das Internet etc. Für jede dieser Welten haben wir Regeln und Gesetze entwickelt, was in der einen untersagt ist, gilt in der anderen unter Umständen als Voraussetzung für den Erfolg. In der Familie, im Freundeskreis gehen wir nicht über Leichen. Im Job rammen wir dem Kollegen wenn notwendig den Ellbogen ohne zu zögern in die Rippen. In der Geometrie anerkennen wir Gesetzmässigkeiten und Formeln, die wir aus dem Alltag strikte heraushalten. Ein geometrischer Punkt, unendlich klein, hat darin keine Relevanz, meinen wir.

In Borges Erzählungen brechen diese sauber voneinander getrennten Welten ineinander ein. Odin bietet Christus die Stirn. Er sagt: Auch Ich bin. Du hast mich vielleicht aus den Köpfen der Menschen verdrängt, aber meine Ordnung fristet neben der deinen weiterhin ihr Dasein.

Ob es eine Scheibe ist, die nur eine Seite hat, oder kleine blaue Steine, die sich auf unerklärliche Weise in ihrer Zahl vervielfachen oder verringern, oder ein Buch, in dem man eine gelesene Seite nie wiederfindet: Bei Borges ist das Phantastische immer auf einen Einbruch einer fremden Welt zurückzuführen. Einer Welt, in der andere Regeln gelten, die aber ebenso geordnet ist wie unsere. Und unsere Welt ist jene, aus der wir alle anderen ausgespart haben. Wir nehmen in ihr nur wahr, was ihre Ordnung und ihre Gesetzmässigkeiten nicht bedroht. Der Einbruch des Phantastischen stellt die Ordnung unserer Welt in Frage. Das Phantastische schafft Unordnung. Um Ordnung wieder herzustellen, muss das Phantastische wieder hinausgedrängt werden. Die blauen Steine werden einem Bettler als Almosen in die Hand gedrückt, das Sandbuch in einer Bibliothek versteckt. Der Holzfäller tötet den König.

Die Welt ist voller phantastischer Dinge. Aber wir dürfen sie nicht sehen.

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