Die Sonette vom Tode

5. Februar 2007

Desolation - © 2004-2007 ladybanui

••• Liebe und Tod, dicht beieinander, wie bei Salome, wie bei Blaubart… In kaum einem dichterischen Werk sind sie so eng verbunden und immer gegenwärtig wie bei Gabriela Mistral. Der Freitod ihres Jugendgeliebten Romelio Ureta ist der Ausgangspunkt ihrer Gedichte in „Desolación“, dem Gedichtband, mit dem sie ihren Ruhm begründete. Und es sollten die stärksten Gedichte ihres Werkes bleiben, wie selbst der Laudator bei der Verleihung des Nobelpreises 1945 an sie feststellte:

Die ganze reiche ibero-amerikanische Literatur ist in unsere Würdigung eingeschlossen, wenn wir uns heute im besonderen an ihre Meisterin wenden, an die Dichterin von „Desolación“…

Hjalmar Gullberg, 10. 12. 1945

Für die „Sonette vom Tode“ erhielt Gabriela Mistral mit 25 Jahren den Chilenischen Literaturpreis, der in Santiago in volksfesthafter Atmosphäre verliehen werden sollte. Die introvertierte, schüchterne Dichterin, die sich ihr Pseuodnym nach ihren Dichtervorbildern Frédéric Mistral und Gabriele d’Annunzio gewählt hatte, wagte damals nicht, vor die Menge zu treten, um ihn entgegenzunehmen.

In ihren Gedichten gibt sie einer obsessiven, alles durchdringenden und alles verzehrenden Liebe eine Stimme. Der Schmerz war umso stärker, als sie sich wohl selbst mit verantwortlich fühlte für den Tod des Geliebten. Doch davon ein andermal mehr…

 

Die Sonette vom Tode

I

Aus der eiskalten Gruft, in die sie dich gelegt,
werde ich dich in die sommerwarme, schlichte Erde senken.
Die Menschen ahnten nicht, daß ich mit dir im gleichen Gelaß
träumen sollte, auf den gleichen Kissen.

In die sonnenwarme Erde werde ich dich betten,
zärtlich wie eine Mutter ihren schlafenden Sohn.
Sanft wird die Erde dich wiegen,
wenn sie deinen Leib empfängt, den wunden eines Kindes.

Rosenstaub und Erde werde ich streuen,
und in dem linden, blauen Dunst des Mondes
wird deine leichte Hülle ruhen.

Besingend meine schöne Rache werd‘ ich forteilen.
Keines Weibes Hand wird in die Tiefe, die verborgne, reichen,
mir dein Gebein, die Handvoll, streitig machen.

II

Dieses lange Müdesein wird eines Tages größer.
Die Seele wird dem Körper sagen, sie trüge
das Gewicht des Leibes auf dem Rosenweg nicht weiter,
auf dem die Menschen wandeln, ihres Lebens froh.

Du hörst, wie sie an deiner Seite emsig graben,
wie wieder eine Schlafende die stille Stadt erreicht,
ich warte, bis man mich ganz zugedeckt…
Und dann, dann sprechen wir für Ewigkeiten!

Erst dann erfährst du, warum du hinuntersteigen mußtest,
da dein Fleisch noch nicht reif war für die tiefe Gruft,
warum du, ohne daß du müde, schlafen mußtest.

In der dunklen Breite deines Schicksals wird es licht:
Du weißt, daß unser Bündnis unter einem Stern gestanden
und daß du sterben mußtest, als dieser hohe Pakt zerbrach.

Gabriela Mistral, aus: „Desolación“
Übertragung: Albert Theile
© der Übertragung Luchterhand 1958

2 Reaktionen zu “Die Sonette vom Tode”

  1. Krüge « Turmsegler

    […] Versöhnung der Dichterin mit sich selbst und dem eigenen Schicksal vor. Jetzt stelle ich fest: Die “Sonette vom Tode” und diese Gedichte stammen alle aus der gleichen Zeit, aus dem gleichen Band: […]

  2. übermüdes abendland « Turmsegler

    […] Als ich zum ersten Mal Gabriela Mistrals “Sonette vom Tode” las, fiel mir tatsächlich zunächst gar nicht auf, dass sie nicht gereimt waren. Als ich es […]

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>