Blutreizker

24. Januar 2007

Blutreizker

Mein Bruder im äußersten Schwung am blauen Anschlag der Himmel Land ohne Eile als wären die Augen verbunden ein Tasten danach mit einem bestimmten Gefühl für Tonhöhe beginnen ohne den Ton vorzugeben ich muß laut zählen den Takt halten im vierhändigen Erinnern o was jetzt da ist und alles noch einmal von vorn das Bilderbuch aufschlagen der Stern so tief eingesunken im Schnee daß er erlosch ich suche die Stelle sein Leuchten zwischen den Seiten mein Bruder ich möchte hoch hinausfliegen Propellerschleife im Haar der Tag mit meinem Mund öffnet die Lippen spielt mit schillernden Seifenblasen die Luftlinie schwirrt in der Farbe des Balls weit über den Zaun Kindheit ein Spielzeug auf Rädern dich ziehe ich hinter mir her das Wachsen an der Hand der Mutter das Wachsen an der Hand der Großmutter ihr ruhiges Miteinander die Zeit ohne Männer im Dorf Mutter mit wundgescheuerten Füßen am Abend ihr Überlandgehen nach Kartoffeln und Mehl Großmutters Stimme Wenn er blutet ist er nicht giftig schneidet den Blutreizker auf im Keller das eingesperrte Lachen Ballons mit Obstwein ängstlich gemieden die Distel bringt Trauer ins Haus einmal von Furcht geschüttelt ich liege in einem Sarg bin nicht tot meine Mutter trägt mich auf dem Rücken zurück in die Stube seitdem brennt die Lampe im Nebenzimmer der Türspalt durch den das Licht fällt immer nur zu Besuch mein Vater heimlich bewundre ich ihn einst hat er mir im Spielzimmer des Himmels den Großen Bären gezeigt meine Zöpfe werden länger ich wachse ein erstes Nachdenken was ist schön

Charlotte Grasnick, aus: „Blutreizker“
Verlag der Nation Berlin 1989
© Charlotte Grasnick 1992

••• Einen, der unerschütterlich von sich überzeugt war, haben wir vor kurzem erwähnt. Charlotte – und ich selbst übrigens auch – zählen eher zu den Zweiflern. So schrieb sie mir auch sehr treffend als Widmung in ihren ersten eigenen Lyrikband „Blutreizker“ folgende Strophe aus einem anderen ihrer Gedichte…

Wenn etwas in uns glüht,
in Stunden
einsam ausgeschwiegen,
schon gehn wir auf die Straße
und wollen an uns glauben…

Das Glühen in den anderen hat sie immer gesehen. Ihrem Urteil habe ich getraut, weil sie nicht nur schwärmte, sondern auch klar auf die Schwächen in den Texten zeigte. So tat es gut, wenn sie an jemanden oder etwas glaubte.

Ich glaube, ich habe das damals öfter gesagt, und ich wiederhole es gern: Ich habe immer an dich geglaubt, Charlotte. Und ich freue mich auf die Gedichte, die noch kommen werden.

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