…verriet ich dich und du auch mich

14. Januar 2007

1984 Cover - © 2002-2007 by Xaime Aneiros
1984 Cover – © 2002-2007 by Xaime Aneiros

Das Café „Zum Kastanienbaum“ war fast leer. Ein schräg durch ein Fenster einfallender Sonnenstrahl fiel auf verstaubte Tischplatten. Es war die stille Stunde nach fünfzehn Uhr. Blechmusik rieselte aus den Televisoren.

Winston saß in seiner Stammtischecke und starrte in ein leeres Glas. Dann und wann hob er den Blick zu einem großen Gesicht, das ihn von der gegenüberliegenden Wand ansah. Der Große Bruder sieht dich an, lautete der Begleittext. Unaufgefordert kam ein Kellner und füllte sein Glas mit Victory-Gin, wobei er ein paar Tropfen aus einer anderen Flasche, deren Kork von einem Federkiel durchbohrt war, hineinspritzte. Es war mit Gewürznelken versetztes Sacharin, die Spezialität des Hauses.

Winston lauschte dem Televisor. Im Augenblick ertönte nur Musik, aber es bestand die Möglichkeit, daß jeden Augenblick eine Sondermeldung des Friedensministeriums erfolgte. Die Nachrichten von der Afrikafront waren äußerst beunruhigend. […]

Eine erregte Gemütsbewegung, nicht gerade Furcht, aber ein ihr nicht unähnliches Gefühl, wallte in ihm hoch, dann verebbte sie wieder. Er hörte auf, an den Krieg zu denken. Gegenwärtig konnte er seine Gedanken nie länger als ein paar Augenblicke hintereinander auf einen Gegenstand gerichtet halten. Er erhob sein Glas und leerte es auf einen Zug. Wie immer, mußte er sich danach schütteln und einen leichten Brechreiz überwinden. […]

Fast unbewußt malte er mit dem Finger in den Staub der Tischplatte:

2 x 2 = 5

„In dein Inneres können sie nicht eindringen“, hatte Julia gesagt. Aber sie konnten in einen eindringen. „Was ihnen hier widerfährt, gilt für immer„, hatte O’Brien gesagt. Das war ein wahres Wort. Es gab Dinge, eigene Taten, die man nie wieder los wurde. Etwas in der eigenen Brust war getötet worden: ausgebrannt und ausgeätzt.

Er hatte sie gesehen; hatte sogar mit ihr gesprochen. Es war keine Gefahr dabei. Er wußte gleichsam instinktiv, daß sie jetzt so gut wie kein Interesse an seinem Tun und Treiben nahm. Er hätte eine zweite Begegnung mit ihr verabreden können, wenn einer von ihnen beiden es gewollt hätte. Tatsächlich waren sie sich durch Zufall begegnet. Es war im Stadtpark gewesen, an einem abscheulichen, schneidenden Märztag, als die Erde aussah wie aus Eisen, das ganze Gras abgestorben schien und nirgendwo eine Blütenknospe zu sehen war außer ein paar Krokussen, die sich durch das Erdreich gekämpft hatten, um vom Wind zerzaust zu werden. Er eilte mit frostblauen Händen und wässernen Augen dahin, als er sie keine zehn Meter entfernt von sich erblickte. Sofort fiel ihm auf, daß sie sich in einer schwer bestimmbaren Weise verändert hatte. Sie gingen, fast ohne Erkennen zu verraten, aneinander vorbei, dann kehrte er um und ging ihr, nicht sehr eifrig, nach. Er wußte, daß keine Gefahr bestand, niemand kümmerte sich um sie. Sie sagte nichts. Sie ging schräg über den Rasen davon, so als versuche sie, ihn loszuwerden; dann schien sie sich damit abzufinden, ihn an ihrer Seite zu haben. Schließlich kamen sie zu einer Gruppe zerzauster, entblätterter Sträucher, die weder als Versteck noch als Schutz vor dem Wind dienen konnten. Sie blieben stehen. Es war scheußlich kalt. Der Wind pfiff durch die Zweige und zerpflückte die verstreut dastehenden, schmutzig aussehenden Krokusse. Er legte den Arm um ihre Hüfte.

Es gab keinen Televisor, aber es mußten versteckte Mikrofone da sein; außerdem konnte man sie sehen. Das machte nichts aus, nichts machte etwas aus. Sie hätten sich auf den Boden legen und das tun können, was sie gewollt hätten. Sein Fleisch erstarrte bei dem bloßen Gedanken. Sie reagierte überhaupt nicht auf seinen um sie gelegten Arm; sie versuchte nicht einmal, sich freizumachen. Jetzt wußte er, was sich in ihr verändert hatte. Ihr Gesicht war bleicher, und eine teilweise von einer Haarsträhne bedeckte lange Narbe lief über ihre Stirn und Schläfe. Aber nicht das war die Veränderung. Sie bestand darin, daß ihre Taille dicker und in einer überraschenden Weise steif geworden war. Er erinnerte sich, wie er einmal nach der Explosion einer Raketenbombe geholfen hatte, eine Leiche aus den Trümmern zu ziehen, und nicht über das unglaubliche Gewicht des Toten gestaunt hatte, sondern über seine Steifheit und die Schwierigkeit, mit der er sich handhaben ließ, so daß er eher aus Stein als aus Fleisch zu sein schien. Ihr Körper fühlte sich ebenso an. Es kam ihm der Gedanke, daß das Gewebe ihrer Haut ein ganz anderes sein mußte als früher.

Er versuchte nicht, sie zu küssen; auch sprachen sie nicht miteinander. Als sie über das Gras zurückgingen, sah sie ihn zum ersten Mal unmittelbar. Es war nur ein kurzer Blick, voll Verachtung und Abneigung. Er fragte sich, ob es eine Abneigung war, die sich nur aus der Vergangenheit herleitete, oder ob sie auch durch sein gedunsenes Gesicht und das Wasser, das ihm der Wind ständig in die Augen trieb, verursacht war. Sie setzten sich auf zwei eiserne Stühle, Seite an Seite, aber nicht zu eng nebeneinander. Er sah, daß sie im Begriff war, zu sprechen. Sie schob ihren plumpen Schuh ein paar Zentimeter vor und zertrat bedachtsam einen Zweig. Ihr Fuß schien breiter geworden zu sein, bemerkte er.

„Ich habe dich verraten“, sagte sie trocken.

„Auch ich verriet dich“, sagte er.

George Orwell, aus: „1984“
© für die deutsche Ausgabe 2000 Ullstein Taschenbuchverlag

••• Als ich nach dem Treffen mit Julia in Berlin nach München zurückkehrte, schrieb ich weiter an meinem „ewigen Manuskript“. Sicher hat die Szene in diesem Berliner Café nichts mit George Orwell und „1984“ zu tun. Vielleicht waren es nur der Name Julia und das Wort Café, die für mich dieses Erlebnis mit der Erinnerung an Orwells Roman zusammengeschweisst haben.

Gelesen habe ich „1984“ im Jahr 1986. Selbstverständlich war es in der DDR verboten. Meine damalige Freundin hatte es aus dem geheimen Bücherschrank ihres Vaters „entliehen“. Ich las es – in Zeitungspapier eingeschlagen – in der Mittagspause auf dem Schulhof, was meine Freundin gar nicht lustig fand.

Under the spreading chestnut tree
I sold you and you sold me –

Im Buch wird der Vers nicht übersetzt. In der deutschen Synchronisation der verstörenden Schwarzweiss-Verfilmung von Michael Anderson hört man ihn deutsch aus dem Off:

Im Café „Kastanie“ sicherlich
verriet ich dich und du auch mich –

Wie kommt es, dass bei all dem Bedrückenden, das Orwell schildert, mich der Verrat der Liebenden am meisten berührt hat? Er illustriert eine tragische Tatsache: Wir können nicht unsere Hand dafür ins Feuer legen, wie wir reagieren unter bestimmten extremen Situationen. Seitdem bin ich sehr empfindlich gegenüber Moralisierern. Wann immer ich einem Verrat begegne, muss ich an Julia und Winston denken.

Eine Reaktion zu “…verriet ich dich und du auch mich”

  1. Wir « Turmsegler

    […] des letzten Jahrhunderts ansehen. Meine nachhaltigste Begegnung mit diesem Genre war Orwells »1984« (1948). An Huxleys »Brave New World« (1932) erinnere ich mich hingegen kaum. Beim Stöbern […]

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